Baltrumer Bitter (German Edition)
Mitten in diesem
fürchterlichen Unwetter. »Hilda! Du kannst sprechen … Rede mit mir! Bitte! Sag
mir, dass du es kannst!«, bat sie eindringlich.
Doch Hilda schwieg, hielt ihre Hand und zitterte.
Wo war das Telefon? Margot musste aufstehen, Hilda für einen
kurzen Moment sich selbst überlassen und Arnold erreichen. Im Dunklen tastete
sie nach dem Telefon. Sie fegte mit ihren Armen über den Tisch. Beinahe hätte
sie die restlichen Erdbeeren auch noch auf dem Boden verteilt. Schließlich fand
sie den Apparat auf der Arbeitsplatte neben dem Brotkorb. Sie konnte kaum die
Zahlen auf der Tastatur erkennen, hoffte auf ihr Glück und hielt den Hörer ans
Ohr. Nichts. Kein Freizeichen. Nur Stille. Wütend warf sie das Telefon wieder
zurück. Sie wünschte sich so sehr, dass Arnold käme, aber wahrscheinlich wäre
es jetzt viel zu gefährlich für ihn, das Rathaus zu verlassen.
Wenn es nur aufhören würde! Sie setzte sich wieder neben Hilda
auf den Fußboden, nahm ihre zitternde Tochter in den Arm und wartete auf das
Ende des Unwetters. Hoffentlich sind alle Fenster zu, dachte sie inbrünstig.
Eigentlich müsste ich dringend einen Rundgang durch das Haus machen. Aber ich
kann Hilda nicht alleine lassen. Unter gar keinen Umständen. Soll es doch
reinregnen.
Ihre Tochter war wichtiger.
Und plötzlich, genauso schnell, wie das Unwetter herangezogen
war, war es vorbei. Der Himmel erhellte sich, der Sturm fiel in sich zusammen
und das Erste, was Margot sah, war – nichts. Denn dort, wo sich normalerweise
die Krone der alten Pappel dem Küchenfenster entgegenstreckte, war nur leerer
Himmel.
»Hilda, ich glaube die Pappel ist weg«, stieß sie verblüfft
hervor. Sie versuchte, Hilda auf einen Stuhl zu setzen. Nur mühsam ließ sich
ihre Tochter bewegen, ihre Schutzstellung auf dem Fußboden aufzugeben. Doch als
Hilda sich mit einem Blick aus dem Fenster vergewissert hatte, dass sich der
Sturm tatsächlich gelegt hatte, setzte sie sich vor die halb volle Schüssel
Erdbeeren, nahm das Messer und begann die Blättchen herauszuschneiden.
Im gleichen Moment flammte die Deckenlampe auf und leuchtete
dann so hell und gleichmäßig, als hätte sie nie ihren Dienst versagt.
Margot versuchte noch einmal, ihren Mann zu erreichen, aber das
Telefon blieb tot.
Vorsichtig öffnete sie die Tür nach draußen. Im Garten verteilt
lagen die Äste ihrer wunderschönen Pappel, vom Sturm einfach abgedreht. Nur der
Stamm ragte wie ein Mahnmal zerfleddert zum Himmel. Ein jämmerliches Bild.
Der Stall mit den Meerschweinchen war völlig zertrümmert. Sie
traute sich kaum hinzuschauen, ob es Überlebende gegeben hatte. Dann wagte sie
es. Sie musste ihrer Tochter zuvorkommen. Hilda sollte nicht erleben müssen,
dass ihre kleinen Lieblinge tot im Käfig lagen. Doch Margot hatte keine Chance,
im Gewirr der Zweige und Blätter etwas zu erkennen. Resigniert versuchte sie,
zumindest die Gartenliege aus dem Gefahrenbereich zu ziehen. Aber auch das
wollte ihr nicht gelingen. Ein dicker Ast lag darauf, wie um sich noch ein
letztes Stündchen Schlaf zu gönnen.
»Margot! Seid ihr okay? Habe versucht anzurufen, aber die
Leitung war tot.«
Gott sei Dank. Arnold war da. Sie lief ihm entgegen, und er
fing sie mit weit ausgebreiteten Armen auf.
»Weißt du was?«, schnüffelte sie. »Hilda hat gesprochen.«
Sie setzten sich auf den Zaun. Eine Angewohnheit, die sie bei
ihren Gästen gar nicht schätzten. Doch in diesem Moment war es der einzige Ort,
der frei war von heruntergefallenen Ästen, Dachziegeln und umgekippten
Holzpalisaden. Dann erzählte Margot ihrem Mann aufgeregt, was sie in den
letzten zwanzig Minuten in ihrer Küche erlebt hatte.
»Ich kann es kaum glauben.« Ratlos schaute ihr Mann sie an.
»Sollte sich doch noch alles …«
»Ich weiß es nicht. Was bleibt uns anderes übrig, als weiterhin
auf ein Wunder zu hoffen? Wie in all den letzten Jahren. Es ist nur so verdammt
schwer. Ich habe gehört, wie sie gesprochen hat. Sie kann es also. Warum tut
sie es nur nicht?« Margot Steenken atmete tief durch.
Arnold hatte den Arm um sie gelegt und strich ihr leicht durch
das Gesicht. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er.
Eine Weile schwiegen beide, dann gab sich Margot Steenken einen
Ruck. »Nun erzähl, wie du den Tornado überstanden hast. Gibt es Schäden im
Rathaus?«
»Wahrscheinlich sind die technischen Geräte im Eimer«, erklärte
Arnold. »Die Computer, die Telefonanlage – alles hin. Die Kollegen überprüfen
das gerade. Ich habe
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