Bamberger Verrat
hier was zu sagen hat. Aber zunächst hat er gar nichts gesagt, mich nur prüfend angesehen und dauernd seinen Kuli an- und ausgeklickt. Wie in einem Verhör. Nervtötend. Aber nicht mit mir! Also hab ich mich zu meiner vollen GröÃe aufgerichtet und mit meiner berühmten FurchteinflöÃestimme gesagt: âºIch habe Ihnen ja schon geschrieben, warum â¦â¹ Er hat mich mit einem fast unmerklich spöttischen Lächeln unterbrochen, als hätte er meine Reaktion erwartet. Wahrscheinlich hat er das als alter Verwaltungsmann Hunderte Male erlebt. âºJa, vielen Dank für Ihren Briefâ¹, hat er gesagt, so richtig von oben herab. âºIch habe ihn aufmerksam gelesen. Aber mir ist nicht ganz klar, was das Ganze soll. Der Fall meines Bruders wurde doch in den Medien schon genug breitgetreten und ist in den Gerichtsakten auf das Genaueste dokumentiert. Bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik â¦â¹Â â alle Welt sagt ja âºGauck-Behördeâ¹, aber er hat den ganzen langen offiziellen Namen benützt, mit so einem ironischen Unterton. Aber da kam er bei mir an die Falsche. âºNatürlich habe ich sämtliche Unterlagen ausgewertetâ¹, habe ich geantwortet. âºAber erstens ist diese Geschichte noch nie wissenschaftlich bearbeitet worden, und zweitens geht es mir ja um mehr. Ich möchte herausfinden, was diese Grenze quer durch Deutschland in den Menschen bewirkt hat, wie sie â¦â¹ Ich hatte fortfahren wollen: âºâ¦Â wie sie bis heute nachwirkt. Es geht mir in unserem Gespräch um Sie, um Ihre Gefühle.â¹ Aber schon bei dem Wort âºGrenzeâ¹ fühlte ich, wie Novak sich zurückzog, wie eine Schnecke, die ihr Auge einzieht, wenn man ihr zu nahe kommt. In seinem Gesicht bewegte sich nichts, und trotzdem war es, als ⦠als führe lautlos eine Scheibe zwischen uns hoch. Also sagte ich: âºâ¦Â wie es zum Handeln Ihres Bruders hat kommen können. Erzählen Sie mir von ihm. Woher kam zum Beispiel seine Leidenschaft für den Wald?â¹ Das war offenbar die richtige Frage gewesen. Er kam wieder heraus aus seinem Schneckenhaus. Er legte seinen Kuli weg und begann zu erzählen, so ⦠so dicht, als läge das alles schon lang in ihm bereit. Warte mal, das Stück muss ich dir vorlesen. Ich habe es gerade heute Nachmittag noch mal überarbeitet. Ich würde gern wissen, wie du es findest, stilistisch, meine ich.«
Sie holte ihr Manuskript aus dem Nebenzimmer, blätterte bis zur entsprechenden Stelle, setzte ihre Brille auf und begann zu lesen.
»Der Wald?« Wilhelm Novak machte eine lange Pause. »Der Wald war unsere Zuflucht. Unsere Mutter starb, als Franz gerade drei Jahre alt war. Ich war damals acht. Unser Vater ⦠nun ja ⦠er kam wohl einfach nicht damit zurecht. Im Wald waren wir eine Zeit lang vor seinen Flüchen und Prügeln sicher. Wir sammelten Beeren und Tannenzapfen und Reisig und Pilze. Das mit den Pilzen hatte mir noch meine Mutter gezeigt, welche gut und welche giftig sind. Mit den Sachen konnten wir, die wir ja nichts taugten und ihm nur die Haare vom Kopf fraÃen, wenigstens etwas zum Unterhalt der Familie beitragen. Der Wald schenkte uns Dinge, ohne abzurechnen. Im Wald ging es uns oft richtig gut. Da war eine alte Frau, die wir manchmal trafen, die brachte uns das Erkennen von Vogelstimmen bei. Der Kleine lernte unglaublich schnell. Er hörte den Vogel meist schneller als ich und wusste, welcher es war.« Wilhelm Novaks Stimme klang in dem Moment ganz anders als sonst, als hätte sie ihre Uniform abgelegt. »Mein Bruder war ein Glückskind. Alles, was ich mir hart erarbeiten musste, flog ihm einfach so zu, vor allem die Zuneigung seiner Mitmenschen. In seinem Lächeln war von Anfang etwas, dem man nur schwer widerstehen konnte. Selbst Vater prügelte ihn weniger hart als mich.«
Wilhelm Novak war so weit in die Vergangenheit abgetaucht, dass er nicht bemerkte, wie ich mich vorbeugte, um zu sehen, was er da dauernd auf seine Schreibunterlage malte. Es waren lauter Vierecke, ein Quadrat im andern, immer kleiner werdend und die Linien exakt, als wären sie mit dem Lineal gezeichnet. »Es wurde besser«, sagte er plötzlich und räusperte sich, »als Vater in den Schützenverein aufgenommen wurde. Er wurde ein
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