Bambule am Boul Mich
viel schmerzlicher“, wiederholte
er. „Wenigstens für mich.“
„Ich verstehe, Monsieur. Ihr
Sohn...“
„Ja. Mademoiselle Carrier hat
mir vor kurzem von ihrer Absicht erzählt, einen Privatdetektiv zu engagieren.
Sie ist nämlich davon überzeugt, daß mein Sohn umgebracht wurde. Und Sie sollen
den oder die Mörder finden?“
„Ja, Monsieur.“
„Also sind Sie auch ihrer
Meinung?“
„Keineswegs.“
„Wie... also... das versteh ich
nicht.“
„Ich werd’s Ihnen erklären.
Mademoiselle Carrier ist mir sympathisch. Und deshalb bin ich dabei, sie zu...
sagen wir... zu betrügen. Sie bezahlt mich für etwas, was ich nicht vorhabe zu
tun. Denn ich kann mir die Arbeit sparen. Ihr Sohn hat Selbstmord verübt. Es
sei denn, Sie, Monsieur, zweifeln auch daran.“
„Aber nein.“
„Ich tu so, als teile ich die
Ansicht von Mademoiselle Carrier und hoffe, daß das Mädchen mit der Zeit
Vernunft annimmt. Solange sie meint, Ihr Sohn sei ermordet worden, wird sie
leiden. Sie wird dafür leben, ihn zu rächen, die Mörder der Gerechtigkeit
auszuliefern. Jetzt, in ihrem Unglück, darf man ihr nicht beweisen, daß Ihr
Sohn tatsächlich Selbstmord verübt hat — was der Kripo übrigens nicht gelungen
ist. Sie wäre imstande, sich ebenfalls umzubringen. Aber mit der Zeit wird sich
das schon legen. Diese unsinnige, unvernünftige Idee, ein Mord... Ich betrachte
das nur als Sicherheitsventil. Vielleicht weiß sie im Unterbewußtsein, daß sie
nur so weiterleben kann. Man könnte das als Überwindung einer Krankheit
betrachten. Entschuldigen Sie, Monsieur. Sie sind der Arzt, und ich rede daher
wie ein Psychoanalytiker.“
Er seufzte.
„ Hätt’ ich , o Götter,
in dieser Seele lesen können. Obwohl... das hätte bestimmt auch nichts
verhindert. Denn mein Sohn... ja, er hat sich tatsächlich das Leben genommen.
Warum, weiß man nicht. Nur ich... ich weiß es... ich glaub es zu wissen...“
Er schwieg. Ich auch. Er nahm
einen Schluck und fuhr dann fort:
„Vor drei Jahren ist seine
Mutter gestorben. Er betete sie an, wie er mich übrigens auch anbetete. Es war
für ihn ein unermeßlicher Verlust. Aber er hatte immer noch mich. Wir haben uns
zwar ein wenig vernachlässigt, gegenseitig... aber ich hatte sein Vertrauen.
Aber dann... hat er’s verloren... an dem Tag, an ..
Er lachte unangenehm auf.
„Ich bin ein miserabler Arzt,
Monsieur. Ein ganz gewöhnlicher Geburtshelfer, eine männliche Hebamme... Denn
als Arzt... Ich konnte nicht mal meiner Frau helfen. Und als Paul das erfuhr,
war für ihn auch sein Vater gestorben.“
Wieder machte er eine Pause.
Ich unterbrach sein Schweigen nicht.
„Lucile hatte Typhus“, fuhr er
mit tonloser Stimme fort, beherrschte sich nur mühsam. „Ich war nicht in der
Lage, sie zu heilen. Stirbt man heutzutage noch an Typhus, Monsieur? Ja, wenn
man sich von einem Esel behandeln läßt. Tja.“
Er goß sich was nach, trank
aber nicht.
„Tja. Entschuldigen Sie. Ich
hab mich hinreißen lassen. Ich frag mich, warum ich Ihnen das alles erzähle.
Denn das war’s auch nicht, was ich von Ihnen wollte. Was ich eigentlich wollte,
weiß ich nicht so ganz genau Er stand auf. Ich folgte seinem Beispiel.
„Aber er war mein Sohn“, sagte
er. „Es ist normal, daß ich mit Ihnen reden und Sie nach Ihren weiteren
Schritten fragen wollte. Denn schließlich hat Mademoiselle Carrier Sie damit
beauftragt, sich um meinen Sohn zu kümmern.“
„Na ja... für ihn kann ich
jetzt leider nichts mehr tun. Ich versuche nur, dem Mädchen zu helfen, das ihn
geliebt hat.“ Mit diesem Schlußwort verabschiedete ich mich.
Das war alles sehr schön. Paul
Leverrier hatte sich das Leben genommen. Ich hoffte, daß der Grund dafür seine
Sensibilität war, die das Unglück nicht verkraften konnte. Erst der Tod seiner
Mutter, dann der Sturz des Idols: die Entdeckung, daß sein Vater nicht mal ein
Halbgott in Weiß war. Mir sollte es recht sein. War nicht das erste Mal, daß
ein Arzt sich bei seinen nächsten Angehörigen in der Ernsthaftigkeit einer
Krankheit getäuscht hatte. Kein Grund, ein Drama draus zu machen. Aber mir
wär’s schon recht gewesen. Trotzdem... In Jacquelines Umgebung ereigneten sich
seltsame Dinge. Hatte vielleicht alles mit dem tragischen Tod ihres Geliebten
nichts zu tun; aber es interessierte mich, und ich wollte diesen seltsamen
Dingen auf den Grund gehen. Ich ging zu meinem Wagen, den ich in der Rue
Henri-Barbusse geparkt hatte, und fuhr in Richtung Rue Valette.
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