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Banalverkehr - Roman

Banalverkehr - Roman

Titel: Banalverkehr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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scheiße.
    Nachdem ich mich ungefähr eine halbe Stunde lang damit beschäftigen kann, Synonyme für Scheiße zu erfinden, lässt der Spaß daran langsam nach, und ich rutsche zurück in meine Pubertätsdepression. Außerdem habe ich Hunger. Seitdem Mama weg ist, habe ich nichts mehr gegessen, und meine Knie zittern, als ich in die Küche gehe, um mir noch einen Kaffee zu holen. So sehr, dass mein ganzer Körper geschüttelt wird und ich vermutlich aussehe, als hätte ich gerade einen neuen Tanzstil erfunden. Mit letzter Kraft wage ich einen Ausflug zum Supermarkt. Man muss dazu sagen, dass ich zu Supermärkten ein gespaltenes Verhältnis habe. Natürlich ist es schön, sich leckere Sachen kaufen zu können, aber da ich ja seit ungefähr zehn Jahren eine leichte Form von Ess-Brech-Sucht kultiviere, wird der Supermarkt zeitweise zu meinem persönlichen Kiez und die Frau an der Kasse zur Drogendealerin, die mir nichts ahnend dabei hilft, meine Sucht aufrechtzuerhalten, der ich nur selten nachgebe, nur dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wenn es mir schlechtgeht, ich mich leer und unnütz fühle und Alkohol und Sex ihre Wirkung verloren haben. Deswegen ist heute ein Spitzen tag, wirklich ein Spitzen tag, um in den Supermarkt zu gehen. Haha. Aber ich bin ja nicht dumm und treffe Vorkehrungen. Meine Vernunft diktiert mir eine Einkaufsliste, die mich als zusammengefaltetes Post-it in der Hosentasche und als Mantra in meinem Kopf begleitet. Banane, Äpfel, Käse, Wurst, Brot, Reis, Kaffeepads, Milch, O-Saft. Banane, Äpfel, Käse, Wurst, Brot …
    Der Supermarkt ist direkt bei mir um die Ecke, trotzdem bin ich fix und fertig, als ich ankomme. Das liegt vermutlich daran, dass meine Knie immer noch zittern und ich hierher tanzen musste. Den Einkaufswagen benutze ich als Gehhilfe. Banane, Äpfel, Käse, Wurst, Brot, Reis, Kaffeepads, Milch, O-Saft. Ich hänge über der Stange und schiebe einen Fuß vor den anderen. Ich muss schleunigst etwas essen, sonst falle ich um. Bumms, mit dem Gesicht auf die kalten Fliesen vor der Wursttheke. So ein unglamouröser Abgang. Nein, damit kann ich mich nun wirklich nicht anfreunden. Banane, Äpfel, Käse, Wurst, Brot, Reis, Kaffeepads, Milch, O-Saft. Ich schiebe durch die Gänge und arbeite meine Liste ab. Banane, Äpfel, Käse, Wurst, Brot, Reis, Kaffeepads, Milch, O-Saft. Und dann komme ich zufällig in den Gang mit den Konserven und mein Blick bleibt an einer Dose hängen. Junge, frische Erbsen . Junge. Frische. Erbsen .
    Die Vernunft stößt einen gellenden Schrei aus, zerknüllt den Einkaufszettel, wirft das Knäuel in die nächste Ecke, kauert sich selbst daneben und fängt an zu flennen. Ich räume den Einkaufswagen wieder aus, und während ich zurück in Richtung Eingang gehe, murmele ich »Scheiße. Scheiße. Scheiße.« Das war’s. Willkommen auf dem Kiez. Ich mache die Supermarkt-Runde nochmal und packe den Wagen innerhalb kürzester Zeit voll mit Drogen. Rauschmittel aus Zucker und Fett. Fertigkuchen. Pizza. Schokolade. Billige Tiefkühllasagne. Noch mehr Schokolade. Chips. Toastbrot. Sprühsahne. Gummibärchen. Schokoküsse. Pommes frites. Bis der Wagen voll ist und ich mein ganzes Gewicht dagegenlehnen muss, um ihn überhaupt bewegen zu können. An der Kasse muss ich anstehen. Ich zittere – nicht mehr, weil ich kraftlos bin – es ist dieser unbändige Drang zu fressen und danach alles wieder zu erbrechen. Nicht nur das Essen, vor allem die Gründe dafür. Ich scharre mit den Hufen.
    »Geht das nicht schneller?«, raunze ich die Oma an, die vor mir ihr Kleingeld abzählt. Sie schimpft auf die heutige Jugend und landet irgendwie bei einer Anekdote aus dem Zweiten Weltkrieg. Nachdem sie endlich ihre 8,23 Euro in Ein- bis Zehn-Cent-Münzen zusammen hat und ihr Vater gerade seine Flucht aus dem Russen-Gulag plant, bin ich dran. Ich zahle mit Karte, und es dauert ewig, bis die Kassiererin den Kassenbeleg ausgedruckt hat. Ich beobachte die Cent-Oma, die seelenruhig ihre Beute in der rollenden Einkaufstasche verstaut, während ihr Vater und ein paar Mithäftlinge dem Straflager entkommen.
    »Hier bitte noch unterschreiben«, sagt die Kassiererin.
    Ich kann meine Hand kaum ruhig halten, als ich meinen Namen auf die Linie setze.
    »Danke. Und einen schönen Tag noch!«
    Im Stechschritt stampfe ich heim und stopfte mir schon unterwegs abwechselnd Schokolade und Chips in den Mund. Ein junger Mann geht an mir vorbei und schaut mich an mit so einem scheiß Blick, der sich zwischen

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