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Banalverkehr - Roman

Banalverkehr - Roman

Titel: Banalverkehr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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»angenommen du bist Sushi, also ein Fisch, und du beschließt irgendwann, dass du lieber Hefeteig wärst. Mit Marmelade drin. Lutz, da kann nichts bei rauskommen! Am Ende bist du Fisch mit Marmelade, und das ist eine Kombi, die kann man sich einfach nicht schönreden. Wärst du ein Käse gewesen, ein Camembert, zum Beispiel, das hätte funktioniert. Oder wärst du ein Brot gewesen – perfekt. Aber du warst Fisch!«
    Lutz sieht mich an und nickt dann ganz langsam. »Verstehe. Sag mal, dir geht es noch nicht so gut, oder?«
    »Nein, es geht mir noch nicht so gut. Aber das darf dich eigentlich gar nicht interessieren …« Und dann setze ich mich wieder hin und erzähle ihm, warum das alles passieren musste. Zwischendurch stellt er Fragen, die mit »Aber warum hast du …« beginnen und unbeantwortet bleiben.
    Irgendwann merkt er das auch. »Wir können es ja eh nicht mehr ändern«, sagt er am Ende, und es klingt beinahe nach einem Schulterzucken. Er sollte mir stattdessen lieber eine knallen. Das würde sich irgendwie richtiger anfühlen. »Aber wir können einen neuen Anfang machen. Zusammen«, kommt die fällige Ohrfeige schließlich in anderer Form.
    Einen neuen Anfang machen. Zusammen. O Gott. O Gott, o Gott.
    »Nein, Lutz, nein, auf keinen Fall! Das geht nicht! Ich meine, ich kann nicht … Ich … muss erst mal …« Ja, was eigentlich? Vermutlich alles, außer einen neuen Anfang machen. Zusammen. Mit Lutz.
    »Ich versteh schon«, sagt er und steht auf. Sein Blick streift noch einmal mein Gesicht. Zum ersten Mal geht er freiwillig.
    »Danke«, sage ich leise, als ich höre, wie die Wohnungstür hinter ihm zufällt. Es ist besser so.
    Schwule Seepferdchen. Bärchensticker. Komm schon, streng dich an. Frag dich, ob es den Seepferdchen lieber wäre, homosexuelle Seepferdchen genannt zu werden. Los, du kannst es! Ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht. Der traurige Versuch, mit Lutz ins Reine zu kommen, und sein noch traurigerer Versuch, wieder mit mir zusammenzukommen, haben mich völlig aus der Bahn geworfen. Denk an was Schönes, Puppe. An irgendwas aus der Kindheit. Sonntags gibt’s immer Gulasch. Vom Holzofenherd. Das beste Gulasch der Welt. Und vor dem Essen gehe ich immer mit Papa im Wald spazieren. Eigentlich bin ich ja lieber drinnen und spiele, aber Papa sagt, dass es im Wald eine Quelle gibt, und wenn man sich einmal in der Woche das Gesicht mit dem Quellwasser wäscht, bekommt man später keine Akne, also gehe ich mit. Und bekomme auch nie Akne. Heute ist mir klar, dass Papa mich voll verarscht hat, weil er nicht wollte, dass ich zum Stubenhocker werde. Kind sein ist wunderschön. Warum muss man erwachsen werden, wenn man in einem System lebt, das funktioniert? Das ist unfair. Früher gab es keine Lene, keinen Lutz, keine Erbse … Nur den Sonntagsspaziergang zur Akne-Quelle und Gulasch vom Holzofenherd.
    Ich weine meinen Erinnerungen hinterher und würdige sie, indem ich darauf trinke. Eine ganze Flasche. Auf nüchternen Magen. Nachdem ich die nächste geöffnet habe, proste ich Erbse zu, die ich nun im Himmel vermute, mit kleinen Flügelchen und einer winzigen Harfe. Neun Wochen und fünf Tage. Sie hatte sogar schon ein kleines Erbsenhirn. Neun Wochen, fünf Tage, und dann war Schluss. Ausgeblutet aus einem grapefruitgroßen Uterus, wie ausgeflockter alter Kakao in das weiße Porzellan einer Kloschüssel, die letzte Reise in die Kanalisation. Auf dich, Erbse! Wir hätten Spaß haben können mit den blöden Seerosen.
    Nach der halben zweiten Flasche geht es mir viel besser, und ich habe eine tolle Idee: Selbstmord. Zugegeben, in meinem Zustand kann ich nicht mehr so richtig entscheiden, ob das wirklich ein guter Plan ist. Also rufe ich Franzi an.
    Sie muss sofort herkommen, denn sie kennt sich mit dem Thema aus. Immerhin hat sie selbst schon drei Selbstmordversuche hinter sich, das ist in ihrer Familie Tradition. Opa stand schon auf dem Dach, und auch Mutti hatte das Obstmesser am Handgelenk angesetzt. Aber sie leben alle noch. Genau wie Franzi. Die wollte sich zweimal vor die Straßenbahn werfen, hat den Plan dann aber doch nicht in die Tat umgesetzt, weil die Bahn jedes Mal Verspätung hatte. Statt zu warten, ist sie lieber einen Kaffee trinken gegangen. Beim dritten Versuch sollten es Tabletten sein. Davon musste sie aber nur kotzen. Franzi ist also ein Profi in Sachen Selbstmord. Halbwegs jedenfalls. Denn die richtigen Profis kann man ja nicht mehr fragen.
    »Welcome to the Show«, sage ich

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