Banalverkehr - Roman
Abend lang alleine lassen muss. Wegen dem Schlauch und so.
»Tut mir leid, dass hier so ein Chaos ist, aber so oft, wie ich bei dir bin, hab ich keine Zeit, um aufzuräumen.«
»Ich verstehe«, sage ich und nehme unbemerkt ein paar große Schlucke aus der Whiskyflasche, die offen auf dem gläsernen Couchtisch steht, während Edo auf dem Sofa Platz schafft, damit ich mich setzen kann. Er ist ja so aufmerksam.
»Du kannst ruhig deine Präsentation machen. Ich will einfach nur hier sein. Ist das okay?«
Ist es. Edo sitzt auf der Couch vor seinem Laptop, ich schaue eine Weile zu. »So oft, wie ich bei dir bin« hat er gesagt, dabei ist er viel zu selten da. Ich nippe am Whisky und vermisse die Zeiten, in denen der Alkohol geschmeckt hat.
»Ich glaube, ich lege mich jetzt hin«, sage ich schließlich. Edo brummt nur, er muss sich konzentrieren. Ich küsse ihn auf die Wange und gehe ins Bett. Ich muss wach bleiben, warten. Ich will nicht ohne ihn einschlafen, ich will nicht ohne Edo sein, er darf mich nicht verlassen. Ich höre, wie er auf die Tastatur klopft. Ich liebe ihn. Das Bettzeug riecht nach Zigaretten und nach ihm. Ich liebe ihn.
Edo, ich liebe dich. So sehr, dass es in meinem Leben für nichts und niemand anderen mehr Platz gibt. Nicht einmal für mich selbst.
Ich lebe für Edo, und Edo lebt in mir. In diesem absonderlichen Haus, das auf meinen Schultern sitzt und Gedanken produziert, wohnt Edo.
Edo. Ein Glück, dass er gekommen ist und mich gerettet hat. Was war mein Leben vor ihm? Stationen ziehen vorbei. Der Erinnerungszug. Ansagen aus dem Lautsprecher: »Zu Ihrer Rechten sehen Sie die kleine, seltsame Puppe im Sommer 1984 in ihrem weißen Kleid mit den bunten Pünktchen.« Szenen, Bilder in grellen Farben, Stimmen, getrennt voneinander durch grelle, weiße Blitze durchzucken meinen Kopf. Sie wackelt so lange auf dem Sessel herum, bis sie samt diesem vornüberkippt und mit der Stirn gegen eine scharfe Kante von Omas Eiche-Rustikal-Schrankwand knallt. Noch Jahre später ziert ein filigraner Streifen dunkelrotes Blut das Furnier. »Das krieg ich nie wieder ab!« Mama hatte gleich gesagt: »Du sollst nicht auf dem Stuhl herumturnen!« Geschieht dir recht, böse, kleine Puppe.
»Sag mal, bist du als Kind mal irgendwie auf den Kopf gefallen, oder was ist das mit dir?«
»Mama, die Sandra hat so schöne Barbies! Und die haben so schöne Kleider!« – »Aber Püppchen, du hast doch schon so viele Barbies!« – »Aber nicht solche wie Sandra!« MAN WILL IMMER DAS, WAS MAN NICHT HABEN KANN. Am nächsten Tag hat Sandra eine schöne Barbie weniger. »Warum hast du das gemacht? Ich bin so enttäuscht von dir!« Hausarrest. Sandra will auch nicht mehr mit Puppe spielen. Genau wie die anderen. Puppe hat nie Freunde. Auch, wenn sie nicht klaut. Aber das macht nichts, denn Puppe hat viele schöne Barbies …
»Und? Wie war dein erstes Mal?« » Stammel , stotter . Noch gar nicht.« – »Was? Ist ja krass. Du bist doch auch schon siebzehn!« Ich bin zu dick. Wenn ich dünner wäre, hätte ich auch einen Freund. Und Sex.
Tagesplan:
2 Tassen Kaffee mit Milch (ca. 50 kcal)
1 Banane (100 kcal)
halbes Brötchen (100 kcal)
Gewicht: 50,2 kg
»Du bist so dünn geworden. Ich mache mir Sorgen.« – »Musst du nicht, Mama. Das ist der Abi-Stress.«
»Keine Angst. Es tut gar nicht weh.« Puppe schreit ins Kissen und ist keine Jungfrau mehr.
»Wieso hast du das getan, Arschloch? Ich liebe dich doch.« – »Stell mick nixe immer hien wie eine Arsche-Locke. I komme nix von se los, was solli maken?« – »Ich will doch nur, dass du mich liebst.« – »Aber i lieb de Julia. Sorry.«
»Zu mir oder zu dir?« – »Ach, lass uns einfach schnell aufs Klo gehen. Es dauert nicht lange.«
Tagesplan:
3 Tassen Kaffee schwarz (0 kcal)
2 Gläser Wodka-Orange (ca. 510 kcal)
Gewicht: 46,8 kg
»Kann ich heute Nacht hierbleiben?« – »Hm, das ist schlecht. Meine Freundin kommt morgen früh zurück von ihrem Wochenendtrip.«
Tagebucheintrag:
Ich muss ein Fehler sein. Bestimmt bin ich ein Fehler. Warum sollte ein Mensch geboren werden, den niemand will? Entweder bringt mich das Alleinsein um oder ich mich selbst. Fuck you all.
»Lene«, sagt Lene und reicht Puppe die Hand. »Puppe«, sagt Puppe und schüttelt sie.
Lene und Puppe liegen volltrunken auf der Campuswiese. Gemeinsam depressiv zu sein, ist wundervoll. Die ganze Welt hasst sie, weil sie zu schön sind und zu witzig und zu schlau, aber sie haben einander und
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