Banalverkehr - Roman
Minuten. Das ist das Phänomen der Kindheit. Dass das Leben nur so lange scheiße ist, bis irgendjemand einem ein Bonbon zusteckt oder das Kinderprogramm einen vom Scheiße-Fühlen weghypnotisiert.
Das erste Mal, dass das bei mir nicht mehr geklappt hat, war an meinem zwölften Geburtstag. Es war der erste schlimmste Tag meines Lebens und das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass ich außer meinen Eltern niemanden hatte. Niemanden .
Ich sehe mich selbst, wie ich am Nachmittag zu Hause bin und Mama dabei zuschaue, wie sie den Kuchen aus dem Ofen holt. Ich trage meine neue Levis-Jeans, eine dicke, runde Brille mit buntem Kunststoffrahmen und die obligatorische Bobfrisur mit hochgegeltem Pony. Ich beschwatze Mama so lange, bis sie ein paar ihrer schönen Kleider rausrückt, mit denen man Verkleiden spielen kann. Ich lege die Sachen auf mein Bett und warte auf meine Geburtstagsgäste.
Um drei kommt Rotzglocken-Linda mit ihrer kleinen Schwester. Obwohl ich sie schon vor Wochen eingeladen hatte, hat sie sich auf meinen Geburtstag nicht vorbereitet und bringt statt einem richtigen Geschenk ein blödes kleines Memoryspiel mit, ein Werbe-Give-away von irgendeiner Firma. Ich freue mich trotzdem und steigere mich in den Gedanken hinein, dass ich noch nie ein tolleres Memoryspiel bekommen habe. Wir spielen eine Runde und sitzen dann rum. Rotzglocken-Linda fragt nach den Klamotten, die auf meinem Bett liegen, und in diesem Moment weiß ich, dass sie es doof finden würde, Verkleiden zu spielen. Ich weiß nicht wieso, ich frage nicht mal, ich gehe einfach davon aus und schäme mich, dass ich überhaupt auf so eine dumme Idee gekommen bin. Eine Stunde später sagt Rotzglocken-Linda, dass sie und ihre Schwester nach Hause müssten. An den Grund kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß damals schon, dass es eine Ausrede ist. Ich bleibe alleine in meinem Zimmer und spiele Memory, bis Mama irgendwann kommt und uns Kuchen bringen will.
»Wo sind denn Linda und Anne?«, fragt sie ungläubig und stellt die drei Teller auf meinen Schreibtisch.
»Die mussten gehen.«
»Jetzt schon?«
»Ja, aber guck mal, das tolle Memory, das ich gekriegt habe!« Mama schaut es sich an und nickt. Natürlich sieht auch sie auf den ersten Blick, dass es ein Werbegeschenk ist und nichts, was man für mich zu meinem Geburtstag ausgesucht hat.
»Das tut mir leid, Püppchen«, sagt sie und streicht mir über den Kopf.
Ich lächle . »Wieso denn? Ist alles in Ordnung. Sie wollten ja gar nicht gehen, aber sie mussten halt.«
Mama deutet mit ihrem Kopf in Richtung der Kleider, die immer noch unangetastet auf meinem Bett liegen. »Und, habt ihr Verkleiden gespielt?«
Ich lächle . »Nein, das war doch eine dumme Idee. Aber danke, dass du sie mir geliehen hast, Mama.«
Sie nickt noch einmal. »Willst du ein bisschen mit in die Küche kommen? Ich mache Lasagne zum Abendessen. Die magst du doch so gerne.«
Ich lächle . »Nein, ich spiele noch ein bisschen.«
Mama lässt mich alleine, und ich sitze wie ein Idiot, immer noch lächelnd , auf dem Teppich und decke Memorykarten auf. In Wahrheit ist mir natürlich nicht zum Lächeln zumute, denn anscheinend bin ich es nicht wert, meinen Geburtstag länger als eineinhalb Stunden mit mir zu feiern, anscheinend bin ich kein Grund zum Feiern. Ich versuche tapfer weiter zu lächeln , als ich die Memorykarten gegen die Wand werfe und mich selbst neben den Klamottenhaufen auf mein Bett. Ich lächle . Und die Zimmerdecke ist weiß. Es wäre besser, wenn ich jetzt heulen würde, aber so lange ich noch lächeln kann, fühlt sich die Wahrheit nicht ganz so schlimm an.
»Wir sind wieder da«, höre ich Edos Stimme.
Ich lächle . »Na? War’s schön?«
Edo nickt. »Kirche halt. Und meine Eltern fanden blöd, dass du nicht mitgekommen bist. Und bei dir? Alles klar?«
Ich lächle . »Klar.« Dann wirft sich Edo aufs Bett und sieht sich eine Wiederholung von Kennys Tod an, während ich an die Decke starre. Sie ist weiß.
Am nächsten Tag fliegen wir nach Hause und reden während des Flugs kein Wort miteinander. Erst freue ich mich darüber, mache das Schweigen zu Vertrautheit und absoluter Nähe und greife nach Edos Hand. Sie jetzt zu halten, so vertraut und nah, das würde diesem Moment etwas Zeitlupiges geben und wäre der Lohn für die mühevollen drei Tage, an denen ich mich durch die seltsame und beinahe feindselige Stimmung im Fuchsbau seiner Eltern gequält habe. Aber Edo zieht seine Hand weg und sieht
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