Banatsko (German Edition)
wie für eine Winternacht. Frau Genya bot mir Holunderblütentee an, und während ich ihn trank, stand sie, die Hände auf dem Rücken verschränkt, zwischen den beiden Fenstern ihres Wohnzimmers.
Suchen Sie etwas in Senta?, fragte sie.
Nein, sagte ich.
Die meisten Fremden, die hierher kommen, suchen nach etwas, erklärte sie. Sie kommen von weit her angereist und suchen nach Gräbern oder Namen, nach Häusern, Geschäften, Verwandten. Sie haben nur davon gehört oder sie lange Zeit vergessen.
Frau Genya machte eine Pause. Sie wartete auf eine Antwort. Darauf, dass ich mich auf ein Anliegen besann.
Wissen Sie, einmal stieg eine ältere Dame bei mir ab. Sie trug ein raschelndes altmodisches Seidenkleid. Sie ging an einem Stock, und in der Hand trug sie eine Einkaufstasche. Sie suchte ihre eigene Schwester, die hatte sie über fünfzig Jahre nicht gesehen. Dabei kam sie nur aus Belgrad. Sicher finden Sie dieses Kleid merkwürdig, sagte sie zu mir. Schließlich ist das hier ja nur eine Kleinstadt und keine Oper. Ich habe das Kleid angezogen, damit meine Schwester mir glaubt, dass ich es bin. Wir trugen immer die gleichen Kleider, bis ich eines Tages wegging. Am nächsten Morgen bezahlte sie die Übernachtung und machte sich auf in die Stadt. Am Nachmittag sah ich die Frau im Park vor dem Stadthaus. Sie saß auf einer Parkbank, neben ihr ihre Schwester. Die Schwester trug einen Anorak. Sie hatten beide die gleiche Frisur, und beide hielten sie die gleiche Einkaufstasche auf dem Schoß, so eine altmodische braunkarierte Tragetasche mit Henkeln. Aus der Tasche der Schwester ragte Gemüse. Es war Herbst, die Blätter fielen schon. Die Frauen saßen hinter dem Springbrunnen, der Wind fuhr in den Wasserstrahl, und verwehte das Wasser, und die beiden schauten zu.
Frau Genya bot mir ein Stück Kuchen an. Kolatsch nannte sie den Kuchen, mögen Sie von meinem Kolatsch kosten?
Es wurde dunkel, der Vollmond erschien, Wolken zogen auf. In der Gastwirtschaft gab es gefüllte Weinblätter und Wein. Die Gäste kamen in großen Gruppen, aßen viel, lachten und sangen. Kati, riefen sie nach der Wirtin, Katica, bring uns noch dies oder das.
Ich ging durch den Stadtpark zur Tisa, der Springbrunnen schwieg jetzt, der Mond mit eiligem fleddrigem Gewölk davor stand über der Brücke, ein schnurgerades Gitter aus diagonal verschränkten Eisenstreben, das quer durch die Nacht verlief. Die Ufer leer und still, es war, als ob der Fluss nachts aufhörte zu fließen um zu schlafen.
In Frau Genyas Wohnung tickten mehrere Uhren sehr laut, jede Uhr in einem anderen Takt, so dass jeder kleinste Bruchteil einer Sekunde von diesem klackenden Lärm der Zeit erfüllt war.
Während ich frühstückte, stand Frau Genya wieder zwischen den beiden Fenstern. Diesmal hatte sie die Hände auf die gewölbte Lehne eines Stuhls gelegt.
Meine Nichte lebt in Buenos Aires, sagte sie.
Die Straße draußen war lauter als am Nachmittag und Abend zuvor, es war Samstagmorgen und Markt. Der Himmel war grau.
Gestern Abend habe ich den Stadtpark besucht, erzählte ich Frau Genya. Aber der Springbrunnen war abgestellt.
Haben Sie den Vollmond gesehen?, fragte Frau Genya.
Sie drehte sich um und zog etwas aus der kleinen Kommode hinter ihr. Es war ein Packen Postkarten, alte Karten mit Ansichten von Senta, alle im Mondschein. Die Bäume säumten die Hauptstraße noch sehr klein und zart, die Brücke über der Tisa war eine hohe eiserne Bogenbrücke, und am Ufer des Flusses lagen Kähne an breiten Stegen, über die Waren auf- und abgeladen werden konnten.
Das war der Mondscheinfotograf von Senta, sagte Frau Genya. Meine Großmutter soll seinetwegen liebeskrank von der Brücke in die Tisa gesprungen sein. Wochen später wurde sie gefunden, weit unten am Fluss. Sie hinterließ ihre kleinen Töchter und einen rasenden Ehemann, der in seinem Kummer das Weite suchte. Dem Mondscheinfotografen soll nach diesem Zwischenfall kein Bild mehr gelungen sein, erzählten die Leute. Dabei hatte man in ihm einen strahlenden Künstler der Zukunft erblickt.
Auf manchen Bildern standen Menschen im Mondschein vor den Sehenswürdigkeiten von Senta. Sie schauten blass und entrückt, womöglich verzückt, in der langen Starre der Belichtungszeit, ein Kind, vornehm und weiß gekleidet, drückte sich auf einer Fotografie abseits der Gruppe an eine Säule, starrte großäugig und geduldig dem Mondscheinfotografen entgegen. So standen sie, namenlose Mondsüchtige oder zur Mondsucht Bestellte,
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