abgelenkt:
Michael James Smith, geboren in Queens, New York, Sozialversicherungsnummer 873 97 4506, Beruf: Anwalt; Familienstand: geschieden (fünfmal); Kinder: drei; finanzieller Status: wohlhabend; Vorstrafen: keine, mehrfache erfolgreiche Abwendung einer Verurteilung wegen Drogenmißbrauchs mit Hilfe eines kostspieligen Anwalts. Militärdienst: freiwillige Meldung für den Indochinakrieg 1969-70, Majorsrang; Auszeichnungen: Bronze Star und Purple Heart; angeblich Alkoholentziehungskur März/April 1988; aktives Mitglied der Veterans Against the War.
Die E-Mail stammt von Kimberley Jones, einer FBI-Agentin, mit der ich in dem Kobrafall zusammengearbeitet habe. Die karmische Belohnung für meine standhafte Weigerung, mit ihr zu schlafen – trotz ihrer Drohungen, Bestechungs- und Überredungsversuche sowie hysterischen Anfälle –, ist ihre lebenslange Freundschaft. (Der karmische Preis besteht allerdings darin, daß sie die Hoffnung nicht aufgibt – ihre aktuelle E-Mail ist insofern einzigartig, als sie gänzlich ohne sexuelle Anspielungen, Erklärungen unsterblicher Lust oder Wutausbrüche einer Verschmähten auskommt.) Ich stehe nun tief in ihrer Schuld, denn sie hat in einer Annäherung an die Thai-Art ihre persönlichen Gefühle über die Pflicht gestellt und illegalerweise FBI-Datenbanken benutzt, um wertvolle Informationen einzuholen über Michael James Smith, Anwalt, Vietnamkriegsveteran, früherer Kunde von Thai-Prostituierten (mindestens einmal) und Vater von mit Sicherheit vier Kindern, nicht dreien. Mein Handy klingelt, als ich noch auf den Bildschirm starre.
»Hast du die Info gekriegt?«
»Ja.«
»Du liest sie gerade, stimmt’s?«
»Ja. Woher weißt du das?«
»Die Intuition einer Liebenden. Wie fühlst du dich?«
»Ich hab Angst.«
»Wirst du dich mit ihm in Verbindung setzen?«
»Keine Ahnung.«
»Wirst du’s deiner Mutter sagen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Soll das heißen, ich habe meine Karriere aufs Spiel gesetzt, bloß damit du jetzt wieder typisch Thai die nächsten drei Leben darüber nachdenken kannst?«
»Danke. Du hast mir einen Gefallen getan, den niemand sonst mir hätte erweisen können.«
»Danke mir mit deinem Körper, wenn ich das nächste Mal in Thailand bin.«
»Okay.«
Schweigen. »War das ein Ja?«
»Ja. Wie könnte ich ein solches Angebot ausschlagen?«
»Aber du willst eigentlich nicht?«
»Sei nicht so farang. Ich schulde dir etwas, ich löse meine Schuld ein, dir wird’s Spaß machen.«
Geflüstert: »Versprochen?«
»Versprochen.«
»Hast du eine Vorstellung davon, wie mich das antörnt? Wie soll ich nun wieder einschlafen?«
»Danke.«
»Ich lege jetzt auf, Sonchai. Das Gespräch stellt was mit meinem Kopf an, das ich nicht so ganz begreife.«
»Du kannst ruhig Herz sagen.«
»Na schön, also Herz. So, jetzt ist’s raus. Tschüs.«
Sie legt auf, und ich bin wieder allein mit Michael James Smith, dem Supermann, der eines schönen Abends vom Krieg in eine Bar in Pat Pong kam, wo sein Schicksal auf ihn wartete. Der Mann, den ich mythologisierte, lange bevor ich seinen Namen kannte. Der Bastard, dessen Bastard ich bin.
Es schockiert mich, daß er tatsächlich Mike Smith heißt, ein Name, den ich meiner Mutter nach drei Jahrzehnten mühevollst entlockte, aber für falsch hielt. Name, Vietnameinsatz und ungefähres Alter waren alles, was ich Kimberley als Information bieten konnte, außerdem, daß er vermutlich Anwalt geworden und in Queens geboren war. Ich habe sie nicht ausdrücklich um diesen Gefallen gebeten. Sie muß monatelang gegrübelt haben, bevor sie über ihren eigenen Schatten sprang. Im farang- Landheißt das ziemlich viel, oder?
Was soll ich jetzt mit der Information machen? Während ich über diese schwierige Frage nachdenke, sehe ich den Text einer weiteren E-Mail auf dem Bildschirm, wieder von Kimberley.
Du hast mich eben ganz schön aus der Fassung gebracht. Wahrscheinlich hatte ich mir nicht genau genug überlegt, was diese Mitteilung für Dich bedeutet. Eine Info habe ich Dir vorenthalten, aber wenn wir miteinander schlafen werden, muß ich sie Dir wohl doch geben. Bitte geh diskret damit um und verrate niemandem, von wem Du sie hast:
[email protected].
Ach, das Tempo der modernen Kommunikation! Ich glaube, mir wäre das Postkutschenzeitalter lieber gewesen, als Schreiben noch Monate vom Absender zum Empfänger brauchten und man leicht an Cholera oder Hitzschlag sterben konnte, bevor man