Bangkok Tattoo
fragte sie sich sogar, ob sie überhaupt jemals echte Leidenschaft für einen Mann verspürt hatte. Sie fand Sex langweilig; nur der Lohn dafür ließ ihr Herz schneller schlagen.
Sie hat auf einem Fensterplatz in der 747 der Thai Airways bestanden, und das erste, was sie von Amerika erblickt, ist die Küste der Neuenglandstaaten. Die Gang hat eine westliche Flugrichtung festgelegt, mit einer kurzen Zwischenlandung am Londoner Flughafen Heathrow, was bedeutet, daß sie die meiste Zeit im Dunkeln unterwegs war. Jetzt jedoch hat die Sonne sie wieder eingeholt, und zweieinhalbtausend Meter unter ihr wirkt die Ostküste so unberührt wie damals bei der Landung der Pilgrim Fathers. Sie hatte nicht geahnt, daß die Staaten ein so schönes Land sein könnten, und es überrascht sie, das aquamarinblaue Meer träge an den Felsen lecken zu sehen, auf denen sich glitzernd das Morgenlicht spiegelt. Sie hat Thailand nie zuvor verlassen, kennt die Natur der nördlichen Hemisphäre nicht, die so rein und unverdorben anmutet.
Der große Moment naht, als sie die Paßkontrolle erreicht und ein großgewachsener, uniformierter farang mit strengem Gesicht ihren Ausweis durchblättert. Die Begleitperson der Gang wartet in der Schlange daneben, bereit, ihr beizustehen, falls sie die Nerven verlieren sollte. (Oh, solly, solly, Mistel, mein Schwestel sehl emotional, ich sie blinge da lübel, sitzen.)
Aber sie verliert nicht die Nerven: Chanya bezwingt diesen Drachen. Chanya hat Mut, viel Mut.
Hier bewährt sich die Wahl der richtigen Schleuser. Viele Mädchen werden jetzt erwischt, weil sich ihr Paß als schlechte Fälschung entpuppt oder irgend etwas mit dem Visum nicht stimmt. Anders als bei ihr. Obwohl der Mann von der Einwanderungsbehörde ihre Papiere sehr genau inspiziert (als er sie mit seinen stechend blauen Augen mustert, ist klar, daß er sie durchschaut, aber sie läßt sich nicht aus der Fassung bringen und erwidert seinen Blick), kann er keine Unregelmäßigkeiten finden und läßt sie durch. Nun will der Zoll ihr Gepäck begutachten, weil sie aus Bangkok kommt. An dieser Stelle geraten wieder viele der Mädchen in Schwierigkeiten, weil die Gang ihnen etwas in den Koffer gesteckt hat, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Der einzige Gegenstand, für den die Beamten sich bei ihr interessieren, ist das Notebook, das sie in Bangkok gebraucht erstanden hat, hauptsächlich, um E-Mails an Freunde und Verwandte schicken zu können, besonders an ihre Schwester an der Chulalongkorn University, aber auch, weil sie in Amerika ein Tagebuch führen möchte. Die Leute vom Zoll lassen sie durch, und plötzlich ist sie im Land ihrer Träume. Da es in diesem Gebiet der Heiden keine Buddhastatue gibt, der sie mit einem wai danken könnte, legt sie die Handflächen vor der Stirn aneinander und blickt in Richtung Thailand. Diese Stelle übersetze ich dir wortwörtlich aus dem Thai , farang: Sag guten Morgen zu Chanya, Amerika.
Sie und ihre Begleitperson besteigen einen der Transferbusse zum Anschlußflug nach El Paso. Ihr erster Begleiter wartet, bis sie im Flugzeug ist, und verschwindet. In El Paso wird sie von einem rotgesichtigen, kahlköpfigen Texaner mit schlechter Haut und üblem Körpergeruch abgeholt, der sich jedoch als echter Profi erweist, als er ihr, ohne ihren Reizen Beachtung zu schenken, auf dem Weg zum Massagesalon die Modalitäten erklärt: Der Vorteil des Jetlag bestehe darin, daß sie mitten in der Nacht hellwach sei und somit in ein paar Stunden die Spätschicht übernehmen könne. Deshalb solle sie jetzt versuchen, ein bißchen zu schlafen. Dann erwähnt er noch, sie sei die erste Asiatin, die für diesen Salon arbeite.
Der erste spanische Ausdruck, den sie lernt, ist cono, »Möse«, ein Wort, das auch die Nutten in Thailand oft benutzen, aber längst nicht so häufig wie die Mexikanerinnen in dem Massagesalon. Aus ihrem Mund klingt es sehr, sehr schmutzig. Die meisten Mädchen sprechen sowohl Spanisch als auch Englisch, ziehen aber das Spanische vor. Sie haben für gewöhnlich eine Familie jenseits der Grenze und kennen einander aus Ciudad Juárez, wo ihre Freunde und Ehemänner im Drogenhandel tätig sind. Chanya hat sich mental auf jede mögliche Spielart des amerikanischen Mannes vorbereitet, dabei aber nicht bedacht, daß die Frauen das Problem darstellen könnten. Sie sieht auf den ersten Blick, daß es sich um eine kulturelle Frage handelt, hat jedoch keine Ahnung, wie sie sie angehen soll.
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