Bankgeheimnisse
Ohne ihre Antwort abzuwarten, drückte er auf den Rufknopf. »Hilda? Bringen Sie bitte ein Glas Wasser hierher.« Johanna atmete durch. »Es geht schon. Ich möchte nur, daß du gehst. Jetzt sofort.«
Er stand auf und blickte grüblerisch auf sie herab. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er den Raum. Vor der Tür stieß er mit Hilda zusammen, die mit einem erschrockenen Laut das Glas Wasser fallen ließ. Er stolzierte unbeirrt an ihr vorbei und würdigte sie keines Blickes, als sie zögernd in die Hocke ging, um es aufzuheben.
Sie kam mit dem leeren Glas in Johannas Büro. »Ich hole neues Wasser, wenn Sie wollen.«
»Nicht nötig. Nehmen Sie das Glas wieder mit, ich melde mich, wenn ich etwas brauche.« Ohne aufzusehen nahm sie die Kopie der Amery-Akte, die Leo vergessen hatte. »Hier, bringen Sie das ins Büro meines Mannes, aber lassen Sie sich den Empfang bestätigen.« Sie wartete schweigend, bis ihre Sekretärin den Raum verlassen hatte, dann versuchte sie, Strass im Ritz anzurufen, um ihm ihre Absicht mitzuteilen, einige der vorgesehenen Empfänger zu überprüfen. Er war nicht in seinem Zimmer. Sie schrieb ein Fax auf ihrem Notebook und sendete es.
Das Gewitter war heftiger geworden. Blitz und Donner wechselten sich in rascher Folge ab, Regen flutete wie ein Wasserfall über das Fenster und machte die Sicht nach draußen unmöglich.
Johanna schob ihr Notebook beiseite, öffnete ihren Aktenkoffer und holte die Bücher heraus, die sie am Morgen besorgt hatte. Sie legte sie nebeneinander auf den Schreibtisch und starrte sie an. Da war der dicke, rot eingebundene Wälzer, an den sie sich erinnert hatte, eine Abhandlung über zeitgenössische Kunst. Sie schob das Buch zur Seite und griff nach einem anderen, einer Sammlung griechischer Sagen. Ein Buch, das zu ihm gepaßt hatte. Zu dem, was er selbst erlebt hatte. Einsamer Sieger und Herrscher im Turm seines Imperiums. Einsamer Verlierer nach der großen Tragödie in seinem Leben, dem Verlust von Natascha. Johanna legte die flache Hand auf das Buch und schloß die Augen.
Johanna, wenn ich lese, hebe ich ab und fliege. Ich gehe auf die Reise zu einer anderen Welt. Ich bin nicht mehr der müde alte Mann, sondern Huckleberry Finn oder der kleine Prinz.
Sein ernstes Gesicht, mit dem vertrauten Ausdruck von Schmerz. Du bist nicht alt, Harald.
Doch, das bin ich. Ich habe mein Kind überlebt.
Ein Kriminalroman von Agatha Christie, den sie ihm selbst neulich geschenkt hatte. Ein weiterer Krimi von Patricia Highsmith, ebenfalls ein Geschenk von ihr. Ein kleiner Sammelband mit Dramen. Sie vergeudete Zeit, weil sie zuerst die Sagen durchblätterte. Tragödien, die strotzten von Gewalt, Tod und Untergang und geradezu prädestiniert schienen, geheime Hinweise zu bergen. Die letzte Erzählung in dem Band handelte vom Fall Trojas. Sie überflog die Seiten, schüttelte ungeduldig den Kopf, klappte das Buch schließlich geräuschvoll zu. Müßig blätterte sie die Kriminalstories durch, anschließend den kleinen Sammelband. Das letzte Stück war ein Drama von Büchner. Dantons Tod. Sie spürte sofort, daß es dieses Stück sein mußte, ohne zu wissen, woher sie diese Sicherheit hatte. Das letzte Stück. Ihre Finger zitterten, und in ihrer Eile zerriß sie einige der Seiten, bis sie die Stelle gefunden hatte. Danton mit seinen Getreuen im Kerker. Die letzte Nacht, bevor die Häscher Robespierres mit dem Karren kamen, der sie zum Schafott brachte. Sie fand Dantons verzweifelte, melancholische Worte. Morgen würde er eine zerbrochene Fiedel sein, eine leere Bouteille, eine durchgerutschte Hose. »Es ist so elend, sterben zu müssen. Der Tod äfft die Geburt. Beim Sterben sind wir so hilflos und nackt wie neugeborene Kinder. Wir bekommen das Leichentuch zur Windel.« Dantons letzte Handlung, bevor der Henker kam: der Griff nach einem Buch. »Das Leben ist eine Hure, es treibt mit der ganzen Welt Unzucht.« Harald Klingenberg hatte die Prosa in Lyrik verwandelt, ungelenke, traurige, hilflose Lyrik, den sicheren Tod vor Augen. Ein letztes Signal: Seht her, so bin ich gestorben. Ermordet wie Danton.
Das Kratzen in ihrem Hals war unerträglich. Ihre Hände zitterten, sie suchte fieberhaft weiter, aber mehr fand sie nicht. Schließlich legte sie das Buch beiseite. Die Lösung lag vor ihr, es war alles ganz einfach. Dantons Tod war das Ende eines Machtkampfes gewesen. Er war demjenigen unterlegen, der ihn vom Sockel der Macht stoßen wollte. Getötet von einem Mann, der die
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