Bannstreiter
Waagerecht ausgestreckt schlug sie mit ganzer Körperlänge auf und schlief unmittelbar darauf vor Erschöpfung ein.
Ohne das nagende Gefühl von Hunger wäre sie wohl erst am nächsten Tag wieder erwacht. So aber öffnete sie nach kurzer Ruhe wieder die Augen und machte sich auf die Suche nach einem Bach oder einer anderen Frischwasserquelle. Ein leises Plätschern lockte sie auf den richtigen Weg, merkwürdige Stimmen in einer fremden Sprache ließen sie allerdings Deckung suchen. Hinter einem Beerenstrauch verborgen versuchte sie zu ergründen, welches Volk inzwischen zur beherrschenden Kultur aufgestiegen war. Zu ihrer Überraschung entdeckte Hatra ungewöhnlich glatthäutige Wesen, ohne Flügel, Fell oder hornige Schuppen.
Es dauerte eine Weile, bis sie wirklich glauben konnte, was sie da sah, doch irgendwann gab es keinen Zweifel mehr. Es waren ausgerechnet die schwächlichen, von allen anderen Kulturen verachteten Nacktaffen, die die Gunst der schöpfenden und zehrenden Götter errungen hatten.
Die Menschen.
Hatra kam das entgegen, denn rein äußerlich betrachtet sah sie diesem Volk sogar ähnlich. Ihre geschlitzten Pupillen waren noch das verräterischste Unterscheidungsmerkmal. Vielleicht gelingt es mir, den mächtigsten ihrer Herrscher zu betören , dachte sie gerade vergnügt, als ihr Blick erstmals auf ihre rechten Hand fiel, mit der sie einen grünbelaubten Zweig zur Seite geschoben hatte. Die Haut dieser Hand – ihrer Hand – war von tiefen Falten zerfurcht und mit Altersflecken übersät.
Aber … das konnte doch nicht wahr sein!
Entsetzt fuhr sich Hatra mit den Fingern durchs Gesicht. Das fühlte sich so an, als würde sie über die verwitterte Rinde eines alten Baumes streichen. Ihr blieb fast das Herz stehen, doch sie glaubte erst, was sich schon längst nicht mehr leugnen ließ, als sie ihr Spiegelbild in einem Wasserlauf sah. Schlohweißes Haar umrahmte ein Gesicht, das dem ihren zwar ähnelte, aber das Antlitz einer Greisin war.
Plötzlich erinnerte sie sich wieder an Peracs Worte, denen sie damals, im Angesicht der Zyklopenmauer, noch keine Bedeutung zugemessen hatte. Solch starke Kräfte zu beschwören fordert irgendwann einen Tribut , so oder ähnlich hatte er es gesagt und sich damit als wahrer Prophet ihres eigenen Schicksals erwiesen.
Ja, die Hexe hatte zwar ihre Rache bekommen, aber auch einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Sie war tatsächlich ihrer ganzen Jugend beraubt worden. Der mächtige Zauber mit der Blutjade hatte sie vollends ausgelaugt, hatte sie alt und schwach werden lassen …
19. Auf nach Myandor
Syrk
Nur mit Bornus an der Seite ritt Alvin auf das kreisförmig angelegte Zeltlager zu, das sich südlich von Syrk inmitten von saftiggrünen Weiden erstreckte. Weit über zweihundert Schattenschwestern bevölkerten ein von Stadtgardisten und Leichter Reiterei abgeschirmtes Terrain, das in einer natürlichen Senke lag. Rituelle Gesänge erfüllten die beinahe unerträglich heiße Luft. Obwohl die Sonne im Zenit stand, hatte sich der überwiegende Teil der Hexen zu einem großen Sitzkreis unter freiem Himmel zusammengefunden, um gemeinsam eine Beschwörung oder einen Zauber durchzuführen. Die übigen Hexen eilten umher, um die in Trance versunkenen Schwestern mit frischem Wasser zu versorgen oder ihnen Luft zuzufächern. Bei diesem drückenden Wetter konnte es im Laufe eines solchen Rituals leicht zu Ohnmachten oder anderen Zusammenbrüchen kommen.
Bree stand bereits am Rande des Lagers und erwartete sie.
»Ihr seht ja nicht besonders glücklich aus«, entfuhr es ihr zur Begrüßung. Dem Tonfall nach zu urteilen meinte sie es nicht böse, außerdem hatte sie vollkommen recht.
»Ich weiß jetzt, warum Hatra dem König eingeflüstert hat, ich wäre der unverzichtbare Anführer dieses Unternehmens«, brummte Alvin. »So kann sie sich auf ihre Anrufungen konzentrieren, während wir uns Horvuks weltfremdes Gerede anhören müssen. Die Zeit unter dem Einfluss von Silberhaupt ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er kommt mir weiterhin sehr verwirrt vor.«
»Die Schattenmutter ist voller Weisheit«, bestätigte Bree mit großem Ernst. »Aber gibt es auch etwas Neues zu vermelden?«
Nun, da die Pferde standen und an dem vor ihnen sprießenden Gras knabberten, machte sich die Hitze besonders bemerkbar. Die Luft stand regelrecht, nicht der kleinste Hauch war zu spüren. Für die Städte und Ländereien entlang der großen Seenplatte war das mehr als ungewöhnlich.
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