Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
Unwirkliches. Hätte Royal Bradford nicht stets in einer abgeschlossenen Welt der Sicherheit und Zurückgezogenheit gelebt, würden die Männer sie umschwirren wie die Motten das Kerzenlicht. Der bloße Gedanke bereitete Lord Preston körperliches Unbehagen.
Schon seit längerem hatte ihm eine Frage auf der Zunge gelegen. Jetzt wollte er die Antwort wissen.
„Ich habe mich bisher zurückgehalten, Royal, vielleicht, weil ich die Wahrheit scheute. Haben Sie die Absicht, nach Savannah zurückzukehren, sobald Sie Fulham School verlassen? Sehnen Sie sich nach dem Leben drüben? Wollen Sie es wieder führen?“
Sie blickte beharrlich auf die Spitzen der Seidenschuhe hinunter. Endlich begann sie leise zu sprechen, ohne ihn anzusehen.
„Ich fühle mich hier in England zu Hause. Aber ich weiß nicht, wie mein Vormund zu dieser Einstellung stehen mag. Und ich bin natürlich von seiner Zustimmung abhängig, bis ich einundzwanzig ^ein werde oder mich, seine Einwilligung vorausgesetzt, davor verheirate.“
Lord Preston ließ den Blick über die Menschen in dem überfüllten Ballsaal gleiten. Warum konnten Royal und er jetzt nicht irgendwo allein miteinander sein? Er wollte mit ihr von seiner Liebe sprechen, wollte erklären, daß er für eine Weile außer Landes gehen müßte, und sie bitten, auf ihn zu warten, bis er wiederkehrte. Er fürchtete, wenn er dies nicht schnell tat, könnte ein anderer Mann ihr Herz gewinnen, während er nicht in der Nähe war.
„Ich möchte Ihnen eine wirkliche Heimat geben, Royal.“ In seinen Augen lag ein Ausdruck aufrichtiger Empfindung. „Ich möchte Sie umhegen, behüten und lieben, Royal.“
Sie kämpfte gegen die Tränen an. Inzwischen beobachtete man sie schon wieder, und es galt, Lord Preston abzulenken, bevor sich der Klatsch ihrer mit spitzen Zungen bemächtigen würde.
„Vielleicht sollten wir doch tanzen?“ meinte sie.
Er stand auf, verneigte sich, legte den Arm um Royal und führte sie über die Tanzfläche. Da die Damen bei dieser Runde schnell von einem Herrn zum nächsten wechselten, blieb keine Zeit für ein weiteres Gespräch. Royal richtete ihr ganzes Augenmerk auf die schwierigen Figuren des Tanzes. Als die Musik endlich verklang, preßte sie die Hand gegen die Schläfe.
„Ich bin sehr müde, Preston. Meinen Sie, ich könnte unbemerkt auf mein Zimmer gehen, ohne daß jemand daran Anstoß nimmt?“
Er sah bekümmert auf sie nieder. „Sie sind so blaß. Ich kann nur hoffen, daß es nicht meine Schuld ist, wenn Sie sich nicht wohl fühlen, Royal.“
Diesmal zögerte sie nicht mit der Antwort. „Nein, ganz und gar nicht. Ich brauche nur ein wenig Zeit, mit meinen Gedanken ins reine zu kommen.“
Ohne sich um die neugierigen Blicke der Umstehenden zu kümmern, zog Lord Preston Royals behandschuhte Rechte an die Lippen. „Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht. Wollen wir morgen früh noch gemeinsam ausreiten, bevor Sie nach London zurückfahren?“ Er geleitete sie an den Rand der Tanzfläche und wiederholte drängend: „Wollen wir das tun, Royal?“
„Ja, ich werde kommen“, sagte sie und nickte. Plötzlich wußte sie, wie herzlich sie Preston Seaton zugetan war, und diese Erkenntnis schmerzte empfindlich. Denn morgen würde sie den jungen Lord vor den Kopf stoßen müssen. Sie entzog ihm die Hand und knickste hastig. „Ich möchte mich noch von Ihrer Mutter verabschieden“, flüsterte sie und wandte sich ab.
„Bis morgen dann“, rief er ihr nach.
Royal suchte die Dowager Duchess vergeblich und lief deshalb beinahe erleichtert die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Hannah war nicht da. Natürlich hatte sie die Herrin nicht so früh zurückerwartet.
Royal streifte das Kleid ab, schlüpfte in das Nachtgewand und begann sich das Haar zu bürsten. Aber die Aufgewühltheit, die Preston Seatons Worte erregt hatten, wollte nicht weichen. Bald schon glitt Royal zwischen die seidenen, mit handgeklöppelten Spitzen besetzten Laken und blickte auf das Gemälde an der Wand. Es zeigte irgendeinen gewiß längst vergessenen Ahnherrn und ließ Royal sich nicht darüber hinwegtäuschen, wie tief verwurzelt die Familientradition und das Standesbewußtsein im Hause der Chiswicks waren.
Endlich gewann ein erst undeutlicher, später höchst beklemmender Gedanke die Oberhand. Die Dowager Duchess hatte irgendwie gewußt, was ihr jüngerer Sohn für sie empfinden mochte, und hatte ihr zu erklären versucht, warum sie als Gemahlin des nächsten Duke of Chiswick nicht in Frage
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