Baphomets Bibel
waren und nun ins Freie drangen.
Aber diese Worte veränderten etwas. Er hatte das Empfinden, dass sich die Welt um ihn leicht veränderte. Er las weiter.
Er saß nach vorn gebeugt, lauschte der eigenen Stimme und hielt seine Blicke ausschließlich auf die Seite gerichtet.
Die zweitletzte Zeile.
Auch die las er, obwohl es ihm immer schwerer fiel. Und dann musste er noch die letzte Zeile lesen.
Auch das brachte er hinter sich!
Danach war er fertig. Er spürte seine Kehle nicht mehr. Er benötigte unbedingt einen Schluck Wasser und wollte sich auch erheben, um ihn zu holen, als sich seine Augen weiteten.
Es war dunkler um ihn herum geworden. Nicht finster, aber schattiger. Er saß noch immer in seinem Sessel, er sah die mit Holz verkleideten Wände und auch den langen Tisch. Die Couch war auch geblieben, und trotzdem war es zu einer Veränderung gekommen.
Das wusste van Akkeren. Er musste nur herausfinden, was es genau war. Deshalb stand er auf. Seine Beine zitterten leicht in den Kniekehlen, aber sie gehorchten ihm auch weiterhin.
Dann ging er einige Schritte. Er wollte zum Fenster, um zu sehen, wo er sich befand.
Der Blick durch die Scheibe.
Eine andere Welt. Nicht dunkel, nicht hell. Zwischentöne. Licht und Schatten. Eine junge Frau sah er laufen. Ihr Gesicht war vor Angst verzerrt, weil sie von einer riesigen Steinkugel verfolgt wurde, die einen steilen Hang hinabrollte.
Die Frau rannte. Und trotzdem kam sie nicht von der Stelle. Anders die Steinkugel.
Sie rollte und rollte. Sie war schnell, und sie schien immer mehr anzuwachsen.
Die Frau konnte es nicht schaffen. In den nächsten Sekunden würde sie von der Lastwagengroßen Kugel überrollt und zerdrückt werden.
Eines jedoch irritierte van Akkeren dabei. Es war nichts zu hören. Er vernahm keine Abrollgeräusche, kein Donnern der Kugel auf dem Boden, es gab überhaupt keinen Laut mehr. Alles blieb völlig still. Wie in einem Stummfilm.
Dann war die Kugel da!
Jetzt musste sie die Frau erfassen. Es kam anders. Genau in dem Moment, in dem es hätte passieren müssen, gab es einen Riss. Was es genau war, konnte sich van Akkeren nicht erklären. Er sprach einfach nur von einem Riss, denn die Szene war weg.
Als er jetzt durch das Fenster schaute, da sah er die normale Straße und auch die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite. Er blickte gegen die erleuchteten Fenster. In zwei Zimmern lief die Glotze, aber mehr bekam er nicht zu Gesicht.
Wo war die Frau, die vor der Kugel weggerannt war? Wo steckte dieses monströse Gebilde?
Nichts davon war zu sehen, gar nichts. Die normale Welt hatte gewonnen.
Van Akkeren trat von Fenster weg. Er dachte darüber nach, was er getan hatte. Dabei ging er alle Einzelheiten durch, und plötzlich wusste er Bescheid. Oder glaubte es zumindest.
Jetzt schaute er in die Wahrheit und in die Realität hinein. Was er nach dem Lesen der Seite erlebt hatte, entsprach diesen Tatsachen nicht. Da hatte er etwas anderes gesehen.
Nur...
Van Akkeren dachte so scharf nach wie selten zuvor. Er beschäftigte sich auch mit dem Buch, mit dessen Inhalt und Funktion.
Dann wusste er Bescheid!
Fast hätte er vor Freunde aufgeschrien. Der Blick aus dem Fenster hatte ihm die Wahrheit gezeigt. Eine Wahrheit, die wirklich nicht zu fassen war. Selbst er konnte sie kaum glauben.
Die Welt, die er durch die Scheibe gesehen hatte, war eine indirekte Realität gewesen.
Genau der Traum der Frau, die durch die Monsterkugel hätte sterben sollen...
***
Vincent van Akkeren fühlte eine wahre Euphorie in sich und eine Leichtigkeit, die er sonst kaum kannte. Er hätte jetzt bis zur Decke springen können, um schwebend wieder auf seinen Füßen zu landen. Das Wissen über das Erlebte war einfach einzigartig. So etwas hatte er noch nie zuvor empfunden.
Das war höher als alles andere. Dafür vergaß er sogar den Schwarzen Tod, auf dessen Seite er sich geschlagen hatte, weil er hoffte, dass er John Sinclair vernichten würde.
Der Grusel-Star wurde von einer so starken Unruhe erfasst, dass es ihm nicht mehr gelang, auf der Stelle stehen zu bleiben. Er musste sich einfach bewegen und ging mit langen Schritten im Zimmer auf und ab. Hin und wieder warf er einen Blick auf das Buch. Noch war er nicht ganz am Ziel. Er hatte zwar den Traum dieser Frau beobachten können, aber er wusste nicht, ob er auch in Erfüllung gegangen war. Dann wäre irgend wo auf der Welt jemand von einem riesigen Stein überrollt worden.
Durchaus. Aber alles musste stimmen.
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