Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Barbarendämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Barbarendämmerung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
Vom Netzwerk:
schwankte in eine Seitengasse. Aus den Fenstern in den oberen Geschossen war das übertriebene Stöhnen von Huren zu hören. Aus einem anderen ein handfester Streit. Eurese ging zwei Schritt hinter dem barfüßigen Hünen, während der Hüne Tleck dichtauf folgte. Immer, wenn sie eine Straßenfackel passierten, wanderten ihre Schatten um sie herum, bis der des Hünen über Tleck fiel wie ein dunkles Verhängnis. Tleck schwitzte jetzt sogar am verlängerten Rücken. Überall kitzelte und juckte es.
    Vor einem mit einer hohen Mauer umgebenen Anwesen blieben sie stehen. »Da. Das ist das Haus. Siehst du da oben das Fenster? Das steht offen, zum Lüften. Und siehst du den Baum da? Von dem aus kommst du über die Mauer bis aufs Dach, wenn du dich geschickt anstellst, und dann befestigst du das Seil am Schornstein und lässt dich bis zum Fenster … he, warte, wir haben dir noch gar nicht das Seil gegeben!«
    Noch während Tleck zum Fenster und zum Baum gedeutet hatte, war der Große den Stamm hinaufgestiegen. Höher und höher schwang er sich von Ast zu Ast in den Baum hinauf. Eurese hielt Tleck ratlos das Seil hin, der wehrte es ab, verrenkte sich schier den Hals, um den Großen weiterhin sehen zu können, und schnaufte. »Verrückt. Der ist völlig wahnsinnig«, wisperte er.
    »Ich würde eher sagen, er ist ein bisschen zurückgeblieben«, verbesserte Eurese ebenso leise. »Wie alle aus den Offenen Ländern.«
    »Ja. Gut möglich. Aber umso besser für uns. Findest du nicht auch?« Lauter, aber dennoch tonlos, fügte er hinzu: »He, kannst du mich hören? Wir gehen ein bisschen außer Sichtweite, damit wir niemandem auffallen. Vielleicht kommt eine Patrouille von Inspizienten vorbei, wir wollen keinen Ärger kriegen. Wir treffen uns hinterher an dem Fischmaulbrunnen, an dem wir eben vorbeigekommen sind. Viel Glück! Und, ach ja, eine Sache habe ich noch vergessen zu erwähnen, ich hielt es gar nicht für nötig, aber jetzt, wo ich sehe, was du für ein ungebändigter Bursche bist: Unter keinen Umständen, was auch immer passiert, darf meine Büste kaputtgehen! Hörst du mich, mein kletterfreudiger Kumpane? Was auch immer passiert: Lass sie nicht zerbrechen!«
    Es kam keine Antwort mehr. Tleck spürte, wie ihm an den unmöglichsten Stellen der Schweiß ausbrach. Als sie sich auf den Weg zum Fischmaulbrunnen machten, fragte Eurese: »Hat er sich überhaupt erkundigt, wie viel du ihm bezahlen wirst?«
    »Nein, wie soll er das auch? Er spricht ja nicht!«
    Das nun heiterer klingende Gespräch der beiden entfernte sich.
    Der Mann mit den auffälligen Ohrringen klomm an einem waagerechten Ast grundstückeinwärts, bis dieser sich genügend bog, dass er sich gut auf das Hausdach hinuntertropfen lassen konnte. Seine Landung auf den mit Flechten bewachsenen Schindeln machte kaum mehr Lärm, als wenn er eine Katze gewesen wäre. Geduckt verharrte er eine Weile.
    Rund um das Haus herum schnürten große Tiere durch den Garten. Sie konnte er durch Lautlosigkeit nicht in die Irre führen. Sie witterten seine Anwesenheit und knurrten mit gebleckten Lefzen.
    Langsam richtete er sich auf. Von hier oben wirkten die Labyrinthe der Stadt wie Verwirbelungen von etwas Unbeständigem. Er ging vor zur Dachkante. Unter ihm das Fenster. Noch weiter unter ihm durch Blattwerk streifende Schatten.
    Er setzte sich auf die Dachkante, mit dem Rücken zur Tiefe. Dann rutschte er mit dem Hintern noch weiter ins Nichts, bis seine Kniekehlen auf der Kante auflagen. Jetzt hing er mit dem Rücken zur Hauswand kopfüber vom Dach und konnte mit den abwärts ausgestreckten Händen das Fensterbrett des offenen Fensters erreichen. Er spreizte die Daumen nach außen und die Fingerkuppen um die Inneneinfassung, sodass er einen möglichst guten Halt hatte, und stieß sich in den Kniekehlen ab. Sein Körper beschrieb einen Überschlag, und die Kraft seiner Arme war groß genug, um diesen Überschlag ganz langsam ablaufen zu lassen. So schlug er nicht unterhalb des Fensters unkontrolliert gegen das Haus, sondern rollte seinen Körper mitsamt den angewinkelten Beinen wie eine Schaukel zwischen seine Arme. Er kam auf dem Fensterbrett in den Stand, die Hände links und rechts der Füße, der gesamte Körper eine kompakte Ballung. Abermals hatte er beinahe kein Geräusch gemacht.
    Das Zimmer hinter dem Fenster war dunkel. Er glitt hinein, wollte nicht allzu lange von draußen sichtbar sein. Im Inneren wartete er, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

Weitere Kostenlose Bücher