Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Gesellschaft.«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Ich habe zu tun, Daniel. Gehen Sie nach Hause und lesen Sie diese Seiten. Sie gehören Ihnen.«
Der Alte wandte sich ab, und ich ging zur Tür. Ich stand bereits auf der Schwelle, als seine Stimme mich rief, beinahe flüsternd.
»Daniel?«
»Ja?«
»Seien Sie sehr vorsichtig.«
Auf der Straße war es, als schleppe sich die Schwärze übers Pflaster, dicht auf meinen Fersen. Ich ging schneller und behielt dieses Tempo bei, bis ich zu unserer Wohnung in der Calle Santa Ana kam. Beim Eintreten sah ich meinen Vater mit einem Buch auf seinem Sessel sitzen. Es war ein Fotoalbum. Als er mich erblickte, stand er mit so erleichtertem Ausdruck auf, als wäre ihm ein gewaltiger Stein vom Herzen gefallen.
»Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sagte er. »Wie war die Beerdigung?«
Ich zuckte die Schultern, und er nickte ernst, womit das Thema abgeschlossen war.
»Ich habe dir etwas zu essen gemacht. Wenn du magst, wärme ich es auf, und …«
»Ich habe keinen Hunger, danke. Ich habe unterwegs etwas Kleines gegessen.«
Er schaute mir in die Augen, nickte wieder und begann die Teller vom Tisch abzuräumen. Da trat ich, ohne recht zu wissen, warum, zu ihm und umarmte ihn. Überrascht umarmte er mich ebenfalls.
»Daniel, ist dir nicht gut?«
Ich drückte ihn kräftig.
»Ich habe dich lieb«, sagte ich leise.
Die Glocken der Kathedrale schlugen Mitternacht, als ich Nuria Monforts Manuskript zu lesen begann. Ihre kleine, ordentliche Schrift erinnerte mich an die Reinlichkeit ihres Schreibtischs, als hätte sie in den Worten den Frieden und die Sicherheit gesucht, die ihr das Leben versagt hatte.
NURIA MONFORT: BERICHT ÜBER ERSCHEINUNGEN 1933-1955
1
Julián Carax und ich lernten uns im Herbst 1933 kennen. Damals arbeitete ich für den Verleger Josep Cabestany. Señor Cabestany hatte Carax 1927 auf einer seiner verlegerischen »Sondierungsreisen« nach Paris entdeckt. Julián verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit abendlichem Klavierspielen in einem Animierlokal, und des Nachts schrieb er. Die Inhaberin des Lokals, eine gewisse Irène Marceau, verkehrte mit den meisten Pariser Verlegern, und dank ihrer Bitten, Gefälligkeiten und Indiskretionsdrohungen hatte Julián in verschiedenen Verlagen mehrere Romane veröffentlichen können – mit katastrophalem kommerziellem Ergebnis. Für einen Spottpreis, der die Übersetzung der französisch geschriebenen Originale ins Spanische durch den Autor einschloß, hatte Cabestany die Exklusivrechte erworben, um Carax’ Werke in Spanien und Südamerika herauszubringen. Er war zuversichtlich, von jedem etwa dreitausend Exemplare absetzen zu können, aber die ersten beiden in Spanien publizierten Titel waren ein totales Fiasko: Von beiden wurden kaum hundert Exemplare verkauft. Trotz dieser Mißerfolge bekamen wir alle zwei Jahre von Julián ein neues Manuskript, das Cabestany immer bedenkenlos akzeptierte, da er mit dem Autor eine Verpflichtung eingegangen sei, schließlich bedeute Gewinn nicht alles und gute Literatur müsse man fördern.
Neugierig fragte ich ihn eines Tages, warum er weiterhin Romane von Julián Carax veröffentliche und dabei regelmäßig Geld verliere. Wortlos ging er zu seinem Regal, zog eines von Juliáns Büchern heraus und forderte mich auf, es zu lesen. Das tat ich. Zwei Wochen später hatte ich sie alle gelesen. Diesmal lautete meine Frage, wie es möglich war, daß wir von diesen Romanen so wenig Exemplare verkauften.
»Ich weiß es nicht«, sagte Cabestany. »Aber wir werden es weiterhin versuchen.«
Das erschien mir eine bewundernswerte Geste, die nicht zu dem Bild von Geschäftstüchtigkeit passen wollte, das ich mir von Cabestany gemacht hatte. Vielleicht hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Die Person von Julián Carax interessierte mich immer mehr. Alles mit ihm Zusammenhängende war von Geheimnis umgeben. Zumindest ein- oder zweimal monatlich rief jemand an und fragte nach Julián Carax’ Adresse in Paris. Bald merkte ich, daß es immer dieselbe Stimme war, die sich jedesmal als jemand anders ausgab. Ich sagte jeweils bloß das, was schon auf der letzten Seite der Bücher stand: daß Julián in Paris wohnte. Mit der Zeit meldete sich der Mann nicht mehr. Für alle Fälle hatte ich Juliáns Adresse aus den Verlagsarchiven gestrichen. Ich war die einzige, die ihm schrieb, und ich kannte sie auswendig.
Monate später fiel mir zufällig ein Ordner mit Rechnungen in die Hand. Einerseits waren es die, welche die
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