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Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
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möchte nicht auch noch deiner beiwohnen müssen.«
»Um so besser, Sie sind nämlich nicht eingeladen.«
»Ich meine es ernst.«
»Ich auch. Würden Sie bitte hier anhalten und mich aussteigen lassen.«
»In zwei Minuten sind wir auf dem Paseo de Colón.«
»Ist mir egal. Dieses Auto riecht nach Toten, wie Sie. Lassen Sie mich aussteigen.«
Palacios verlangsamte und hielt am Randstein an. Ich stieg aus, schlug die Tür zu, ohne den Polizisten anzusehen, und wartete, daß er davonführe, doch er blieb stehen. Ich wandte mich um und sah, daß er das Fenster herunterkurbelte. Ich hatte das Gefühl, Aufrichtigkeit, ja Schmerz auf seinem Gesicht zu lesen, aber ich mochte nicht daran glauben.
»Nuria Monfort ist in meinen Armen gestorben, Daniel«, sagte er. »Ich glaube, ihre letzten Worte waren eine Botschaft an dich.«
»Was hat sie gesagt? Hat sie meinen Namen genannt?«
»Sie hat deliriert, aber ich glaube, sie hat dich gemeint. In einem bestimmten Moment sagte sie, es gebe schlimmere Gefängnisse als Worte. Dann hat sie mich, bevor sie gestorben ist, gebeten, dir zu sagen, du sollst sie gehen lassen.«
Ich schaute ihn an, ohne zu verstehen.
»Ich solle wen gehen lassen?«
»Eine gewisse Penélope. Ich habe mir gedacht, das sei deine Freundin.«
Er senkte die Augen und fuhr in der Dämmerung davon.
Verwirrt sah ich, wie die Rückleuchten in der blauroten Dunkelheit verschwanden. Dann ging ich langsam zum Paseo de Colón, während ich diese letzten Worte von Nuria Monfort wiederholte, ohne ihnen einen Sinn abzugewinnen. Auf der Plaza del Portal de la Paz blieb ich stehen und betrachtete die Molen neben der Landungsbrücke der Ausflugsboote. Ich setzte mich auf die Stufen, die sich im trüben Wasser verloren, am selben Ort, wo ich vor vielen Jahren einmal nachts zum ersten Mal Laín Coubert gesehen hatte, den Mann ohne Gesicht.
»Es gibt schlimmere Gefängnisse als Worte«, murmelte ich.
Erst jetzt begriff ich, daß Nuria Monforts Botschaft nicht an mich gerichtet war. Nicht ich sollte Penélope freigeben. Ihre letzten Worte hatten nicht einem Fremden gegolten, sondern dem Mann, den sie insgeheim fünfzehn Jahre lang geliebt hatte: Julián Carax.
30
    Als ich auf der Plaza de San Felipe Neri ankam, war es völlig dunkel geworden. Die Bank, auf der ich Nuria Monfort zum ersten Mal gesehen hatte, stand unter einer Straßenlaterne, leer und mit Taschenmessertätowierungen übersät – Namen von Verliebten, Beschimpfungen und Versprechungen. Ich schaute zu den Fenstern von Nuria Monforts Wohnung im dritten Stock hinauf und sah einen flackernden Schein. Eine Kerze.
    Ich trat ins grottenartige Erdgeschoß und stieg im Dunkeln die Treppen hinauf. Meine Hände zitterten, als ich den Absatz des dritten Stocks erreichte. Unter der angelehnten Tür drang ein rötlicher Schimmer hervor. Ich legte die Hand auf die Klinke und blieb reglos stehen, um zu lauschen. Aus dem Innern glaubte ich ein Murmeln, einen stockenden Atem zu vernehmen. Einen Augenblick dachte ich, wenn ich diese Tür öffne, werde ich sie erblicken, wie sie mich erwartet, rauchend neben der Balkontür, in der Hocke an der Wand lehnend, am selben Ort verankert, an dem ich sie verlassen habe. Sachte, wie um sie nicht zu stören, öffnete ich die Tür und betrat die Wohnung. Die Balkonvorhänge flatterten im Zimmer. Die Gestalt saß am Fenster, reglos und mit einer brennenden Wachskerze in den Händen. Mit tränenüberströmtem Gesicht wandte sich Isaac Monfort zu mir um.
    »Ich habe Sie heute nachmittag bei der Beerdigung nicht gesehen«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf und trocknete sich mit dem Ärmel die Augen.
»Nuria war nicht dort«, murmelte er nach einer Weile. »Tote gehen nie auf ihre eigene Beerdigung.«
Er warf einen Blick in den Raum, als wollte er mir damit zu verstehen geben, daß seine Tochter hier bei uns im Halbdunkeln säße und uns zuhörte.
»Wissen Sie, daß ich noch nie in dieser Wohnung war?« fragte er. »Immer, wenn wir uns getroffen haben, war es Nuria, die zu mir kam. ›Für Sie ist es einfacher, Vater‹, sagte sie. ›Wozu sollen Sie Treppen steigen?‹ Ich habe immer zu ihr gesagt: ›Na schön, wenn du mich nicht einlädst, komme ich auch nicht‹, und sie hat geantwortet: ›Ich brauche Sie nicht zu mir einzuladen, Vater, einladen tut man Fremde. Sie können kommen, wann immer Sie wollen.‹ In über fünfzehn Jahren habe ich sie nicht ein einziges Mal besucht. Immer habe ich zu ihr gesagt, daß sie ein übles Viertel ausgewählt

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