Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
hat. Wenig Licht. Ein altes Haus. Sie hat nur genickt. Ebenso, wenn ich ihr sagte, daß sie ein schlechtes Leben ausgewählt hat. Wenig Zukunft. Einen Mann ohne feste Arbeit. Merkwürdig, wie wir die andern beurteilen und nicht merken, wie elend unsere Geringschätzung ist – bis sie uns fehlen, bis man sie uns wegnimmt. Man nimmt sie uns weg, weil sie uns nie gehört haben …«
Isaacs einst so bärbeißige Stimme klang brüchig.
»Nuria hat Sie sehr geliebt, Isaac. Daran dürfen Sie keinen Augenblick zweifeln. Und glauben Sie mir, sie wußte sich auch von Ihnen geliebt«, stotterte ich.
Wieder schüttelte er den Kopf. Er lächelte durch die Tränen hindurch.
»Vielleicht hat sie mich geliebt, auf ihre Weise, so, wie ich sie geliebt habe, auf meine Weise. Aber gekannt haben wir uns nicht. Vielleicht weil ich nie zugelassen habe, daß sie mich kennenlernte, oder nie einen Schritt getan habe, um sie kennenzulernen. Wir haben das Leben wie zwei Fremde gelebt, die sich täglich sehen und sich aus Höflichkeit grüßen. Und vielleicht ist sie gestorben, ohne mir zu verzeihen.«
»Isaac, ich versichere Ihnen …«
»Ach, Daniel, Sie sind jung und bemühen sich, aber obwohl ich getrunken habe und nicht weiß, was ich sage, haben Sie noch nicht gut genug lügen gelernt, um einen alten Mann mit vergiftetem Herzen zu täuschen.«
Ich schaute zu Boden.
»Die Polizei sagt, der Mann, der sie umgebracht hat, sei ein Freund von Ihnen«, sagte Isaac.
»Die Polizei lügt.«
Er nickte.
»Ich weiß.«
»Ich versichere Ihnen …«
»Nicht nötig, Daniel. Ich weiß, daß Sie die Wahrheit sagen.«
Er zog einen dicken Umschlag aus der Manteltasche.
»Am Abend vor ihrem Tod hat Nuria mich besucht, wie sie es vor Jahren immer getan hatte. Ich erinnere mich, daß wir dann in ein Café in der Calle Guardia essen gegangen sind, wo ich sie als Kind hingeführt hatte. Immer sprachen wir über Bücher, alte Bücher. Manchmal hat sie mir Dinge von der Arbeit erzählt, aber kein einziges Mal habe ich mich wirklich nach ihrem Leben erkundigt.«
»Isaac, bei allem Respekt, Sie haben getrunken wie ein Bürstenbinder und wissen nicht, was Sie sagen.«
»Der Wein macht den Weisen zum Narren und den Narren zum Weisen. Am letzten Abend, als wir uns sahen, hat sie mir diesen Umschlag gebracht. Sie war sehr unruhig, voller Sorge über etwas, was sie mir nicht erzählen wollte, und hat mich gebeten, diesen Umschlag für Sie zu verwahren und Ihnen zu geben, sollte etwas geschehen.«
»Sollte etwas geschehen?«
»So hat sie gesagt. Sie war so erregt, daß ich ihr vorschlug, gemeinsam zur Polizei zu gehen, wir würden schon eine Lösung finden, was für ein Problem es auch sein mochte. Da hat sie gesagt, die Polizei sei der letzte Ort, wo sie hin könne. Ich habe sie gebeten, sie soll mir sagen, worum es sich handelt, aber sie hat gesagt, sie müsse jetzt gehen. Und ich mußte ihr versprechen, Ihnen diesen Umschlag zu geben, wenn sie ihn in zwei Tagen nicht wieder abhole. Sie bat mich, ihn nicht zu öffnen.«
Er gab mir den Umschlag. Er war geöffnet.
»Ich habe sie belogen, wie immer«, sagte er.
Ich schaute hinein. Er enthielt ein Bündel handgeschriebene Blätter.
»Haben Sie sie gelesen?« fragte ich.
Der Alte nickte langsam.
»Was steht denn drin?«
Er schaute auf. Seine Lippen zitterten. Ich hatte den Eindruck, er sei um Jahre gealtert seit dem letzten Mal, wo ich ihn gesehen hatte.
»Es ist die Geschichte, die Sie gesucht haben, Daniel. Die Geschichte einer Frau, die ich nie kennengelernt habe, obwohl sie meinen Namen trug und mein Blut hatte. Jetzt gehört sie Ihnen.«
Ich steckte den Umschlag in die Manteltasche.
»Ich muß Sie bitten, mich allein zu lassen. Vor einer Weile, als ich diese Seiten las, habe ich gedacht, ich finde sie wieder. Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann mich an sie nur erinnern, als sie noch ein Mädchen war. Als Kind war sie sehr schweigsam, wissen Sie. Am meisten haben ihr Märchen gefallen. Immer hat sie mich gebeten, ihr Märchen vorzulesen, und ich glaube nicht, daß je ein Kind früher lesen gelernt hat. Sie wollte auch Geschichten erfinden und Schriftstellerin werden. Ihre Mutter sagte, das alles ist deine Schuld, Nuria betet dich an, und da sie denkt, du liebst nur Bücher, will sie eben Bücher schreiben, damit du auch sie liebst.«
»Isaac, ich halte es nicht für eine gute Idee, daß sie heute nacht allein bleiben. Warum kommen Sie nicht mit mir? Sie verbringen die Nacht bei uns und leisten erst noch meinem Vater
Weitere Kostenlose Bücher