Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Mitternacht weiterarbeitete. Insgeheim pries ich jede Minute, die wir gemeinsam verbrachten, und jede Nacht schlief er an mich geklammert ein, und ich mußte die Tränen der Wut verstecken, weil ich unfähig war, diesen Mann so zu lieben wie er mich, unfähig, ihm das zu geben, was ich Julián umsonst zu Füßen gelegt hatte. Nächtelang schwor ich mir, Julián zu vergessen, nur noch diesen armen Menschen glücklich zu machen und ihm wenigstens einige Krumen dessen zurückzugeben, was er mir geschenkt hatte. Zwei Wochen lang war ich Juliáns Geliebte gewesen, aber für den Rest meines Lebens wollte ich Miquels Frau sein. Wenn diese Seiten einmal den Weg zu Dir finden und Du über mich urteilst, so, wie ich es beim Schreiben getan und mich in diesem Spiegel der Verwünschungen und Gewissensbisse angeschaut habe, dann behalte mich so in Erinnerung, Daniel.
Das Manuskript von Juliáns letztem Roman traf Ende 1935 ein. Ich weiß nicht, ob aus Erbitterung oder Angst, jedenfalls gab ich es ungelesen in die Druckerei. Miquels letzte Ersparnisse hatten die Herausgabe schon vor Monaten sichergestellt. Cabestany, der nach wie vor Probleme mit seiner Gesundheit hatte, war alles andere egal. In derselben Woche kam der Arzt, der bei Miquel Krankenbesuche machte, sehr besorgt zu mir in den Verlag und erklärte, wenn Miquel sein Arbeitstempo nicht reduziere und sich mehr Ruhe gönne, nütze auch das wenige nichts mehr, was er tun könne, um die Schwindsucht zu bekämpfen.
»Er sollte in den Bergen sein, nicht in der schlechten Barceloneser Luft. Weder ist er eine Katze mit neun Leben, noch bin ich sein Kindermädchen. Bringen Sie ihn zur Vernunft. Auf mich hört er nicht.«
An diesem Mittag ging ich nach Hause, um mit ihm zu sprechen. Bevor ich die Wohnungstür öffnete, hörte ich Stimmen im Innern. Miquel stritt sich mit irgendwem. Anfänglich dachte ich, es sei jemand von der Zeitung, dann aber glaubte ich im Gespräch Juliáns Namen aufzuschnappen. Ich hörte Schritte auf die Tür zukommen und versteckte mich eilig auf dem Treppenabsatz des Dachgeschosses. Von dort aus konnte ich den Besucher erspähen.
Ein Mann in Schwarz mit grob gemeißelten Zügen und schmalen Lippen, wie eine offene Narbe. Seine Augen waren ohne Ausdruck, Fischaugen. Bevor er sich treppab verlor, blieb er stehen und schaute ins Halbdunkel herauf. Mit angehaltenem Atem drückte ich mich an die Wand. Einige Augenblicke blieb er so stehen, als könnte er mich wittern, und lächelte hündisch. Ich wartete, bis seine Schritte vollständig verklungen waren, ehe ich mein Versteck verließ und die Wohnung betrat. Ein Kampfergeruch schwebte in der Luft. Miquel saß am Fenster, die Arme hingen ihm zu beiden Seiten des Stuhls hinunter. Seine Lippen zitterten. Ich fragte ihn, wer dieser Mann sei und was er gewollt habe.
»Das war Fumero. Er hat Nachrichten von Julián gebracht.«
»Was weiß denn der von Julián?«
Er schaute mich an, niedergeschlagener denn je.
»Julián heiratet.«
Das verschlug mir die Sprache. Ich ließ mich in einen Stuhl fallen, und Miquel nahm meine Hände. Er sprach mühsam und schleppend. Noch bevor ich irgend etwas sagen konnte, faßte er zusammen, was ihm Fumero erzählt hatte und was man sich darunter vorzustellen hatte. Fumero hatte sich an seine Verbindungsleute bei der Pariser Polizei gewandt, um Julián Carax’ Aufenthaltsort herauszufinden und ihn zu observieren. Miquel vermutete, das könne durchaus schon vor Monaten oder Jahren geschehen sein. Was ihm Sorgen bereitete, war nicht so sehr, daß Fumero Carax ausfindig gemacht hatte, das war nur eine Frage der Zeit gewesen, sondern daß er beschlossen hatte, es gerade jetzt zu verkünden, zusammen mit der befremdlichen Nachricht von einer unwahrscheinlichen Hochzeit. Diese sollte, soweit man wußte, Anfang Sommer 1936 stattfinden. Von der Verlobten war nur der Name bekannt, was in diesem Fall mehr als ausreichend war: Irène Marceau, die Inhaberin des Etablissements, in dem Julián jahrelang als Pianist arbeitete.
»Das versteh ich nicht«, murmelte ich. »Julián heiratet seine Mäzenin?«
»Genau. Das ist keine Hochzeit, das ist ein Vertrag.«
Irène Marceau war fünfundzwanzig oder dreißig Jahre älter als Julián. Miquel vermutete, Irène habe diese Ehe mit Julián schließen wollen, um ihr Vermögen auf ihn zu übertragen und so seine Zukunft abzusichern.
»Aber sie hilft ihm doch schon. Sie hat ihm schon immer geholfen.«
»Sie weiß wohl, daß sie nicht ewig da ist«, mutmaßte
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