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Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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Wiegen hört auf. Die Hände halten inne, aber er lässt sie an den empfindlichen Kopfseiten liegen. Wie ein Boxer oder ein Säugling.
    »Alois«, sage ich wieder.
    Langsam hebt er den Blick. Seine bleichen Augen sehen mich geradewegs an, verraten aber nichts. Ich kann nicht sagen, ob etwas in ihm geschieht.
    Ich merke, wie ich die Kiefer zusammenbeiße. Umklammere die Metallrohre des Bettgestells. Er starrt mich mit seinen trüben Augen an. Mit seinem Idiotenblick.
    Woran erinnerst du dich?, denke ich.
    An eine Puppe? An einen süßlichen Geruch? An deine Hände auf ihren elfjährigen Hüften?
    Ich trete an die Bettseite. Stehe dicht neben ihm. Er senkt seinen Blick, dreht aber nicht den Kopf. Ich streiche über das scharf geschliffene Metall in meiner Tasche. Dann tue ich es.
     
    Ich lege ihn auf die Seite und ziehe die gelbe Krankenhausdecke über ihn. Setze mich auf den Stuhl und warte, dass der Pfleger fertig geraucht hat. Stelle fest, dass ich einen etwas schlechten Geschmack im Mund habe, erinnere mich aber daran, dass im Handschuhfach im Auto ein Paket Kaugummi liegt.
     
    »Schläft er?«
    Ich nicke. Der Pfleger löscht das Licht und schließt ab. Er spielt mit seinem Schlüsselbund. Während ich ihm durch die Flure folge, versuche ich mich erneut auf nichts zu konzentrieren.
    Auf gar nichts.
    Das gelingt mir ganz gut, aber als ich auf die Treppe hinaustrete, empfinde ich trotzdem die Abendluft als befreiend und kühl im Gesicht. Die Dunkelheit hat eingesetzt, und fast sofort entdecke ich die Parkleuchte des Autos.
    Ich schaue mich um. Es gibt keine Menschen mehr hier im Park. Schnell laufe ich über das taufeuchte Gras, bis zum Zaun. Er ist nicht besonders gesichert, in einer halben Minute bin ich auf der anderen Seite. Judith ist aufgewacht. Sie schaut mich durch das Rückfenster an, und ich habe das Gefühl, dass sie auf mich gewartet hat.
    Was sicher nur Einbildung ist. Kristine hält die Tür auf.
    »Alles klar?«
    »Alles klar.«
    »Willst du fahren? Oder soll ich zunächst?«
    Ich zucke mit den Schultern. Das spielt keine Rolle. Wir haben eine lange Nacht vor uns.

Marr
    (Aus Studienrat Marrs hinterlassenen Aufzeichnungen)

I

    Was noch?
Mein Name?
Jakob Daniel Marr.

    1

    Ein eigentümliche Begebenheit

    Im November verlor der Holunder endlich seine Blätter, und zu der Zeit begann es.
    Am Donnerstag in der Woche vor dem Totensonntag, wenn man genau sein will. Es gibt natürlich keinen Grund, nicht genau zu sein. Ganz im Gegenteil. Vermutlich ist das von Bedeutung.
     
    Ich war an diesem Morgen etwas spät. Während ich über die Straße zum Parkplatz hastete – wir, die in dem alten Viertel wohnen und ein Auto haben, lassen es nachts immer unten am Grote Markt stehen, um Parkraum ist es schlecht bestellt, alles ist ja zu einer anderen Zeit gebaut worden, mit anderen Bräuchen und anderen Transportmethoden als unseren ... Während ich also auf dem Weg die Böttchergasse hinunter war, da hörte ich die Glocken des Doms Viertel nach läuten. Ein spröder Klang, wie immer begleitet von einer Krähenschar, die aufflog und wieder landete.
    Ich benutze zu viele Worte, wie ich selbst merke. Habe Probleme, für das hier eine Einleitung zu finden. Eigentlich war es gar nicht anders zu erwarten, aber ich möchte Ihnen ja auch gern eine Art Hintergrund geben. Eine kleine Ahnung zumindest, auf was Sie sich hier einlassen.
    Vielleicht habe ich es schon getan. Ich wohne in einer Stadt, im alten Stadtkern. Hier gibt es einen Dom. Ich besitze ein Auto, die Uhr ist Viertel nach irgendetwas. Es ist ein Donnerstag im November, ich habe mich verspätet.
    Und der Holunder hat sein Laub verloren. Ja, das genügt.
     
    Vom Grote Markt bis zum Elementar, dem Gymnasium, an dem ich arbeite, dauert es entweder dreizehn oder sechzehn Minuten mit dem Auto. Das hängt davon ab, ob die Schranke am Bahnübergang unten ist oder nicht. Ich weiß, dass es logisch wäre, wenn es manchmal auch vierzehn oder fünfzehn Minuten dauern würde, aber das tut es merkwürdigerweise nie. Vielleicht ist das eine Instanz des »dialektischen Grauzonenproblems«, von dem Zimjonovic in seinen Memoiren schreibt, aber ich habe mir nie die Mühe gemacht, diese Frage näher zu untersuchen. Es gibt so viel, was bei Zimjonovic unklar ist. Dreizehn oder sechzehn, so ist es nun einmal. Ich fahre jetzt seit zehn Jahren die gleiche Strecke, ich weiß, wovon ich rede.
    Wie dem auch sei, ich genieße diese Minuten. Ja, mehr als das, ich will ganz ehrlich

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