Barins Dreieck
mich aufs Warten vor.
Die Sonne wärmte richtig. Ich aß ein wenig Käse und Brot, trank einige Schlucke von dem starken, süßen Cidre, und innerhalb von zehn Minuten war ich eingeschlafen.
Als ich aufwachte, wusste ich nicht, wo ich war.
Wie viele Menschen – ich habe dieses Phänomen sowohl mit Ärzten als auch mit Laien diskutiert – überfallen mich ab und zu morgens schwarze Augenblicke. Eingefrorene Augenblicke, in denen die Zeit still steht, nachdem man aus dem Schlaf in das stumme Äußere der Wirklichkeit geworfen wurde und eigentlich wer auch immer sein könnte. Zu welcher Zeit und an welchem Ort auch immer. Seit Ewas Verschwinden legte ich Wert darauf, das Freiheitsgefühl in diesem Augenblick des Unterbewusstseins zu spüren – und hatte auf diese Art, während der drei Jahre, die inzwischen vergangen waren, ein paar Minuten gesammelt, in denen ich sie sozusagen noch bei mir hatte. Das ist doch etwas, hatte ich immer gedacht, aber diesmal – hier draußen am Meer vor Behrensee – war nicht die Rede von diesen einfachen, trostreichen Dingen. Es war etwas viel Stärkeres, vielleicht auch etwas im Wesen ganz anderes, das glaube ich jedenfalls.
Ich lag auf dem Rücken. Über mir kreisten die Möwen in einer hohen, blauen Himmelssphäre. Die Sonne wärmte. Ich konnte das Meer und den Wind hören, der im Strandgras raschelte. Sekunden vergingen.
Ewa?, dachte ich. Das war der erste Gedanke, der die Lebensumstände wieder ins rechte Lot zu rücken pflegte. Ich erinnerte mich an Graues.
Erinnerte mich an meine Rückkehr vor dreieinhalb Jahren.
Erinnerte mich an das Polizeiverhör. Kommissar Morts grünes Hemd mit den Schweißrosetten unter den Achseln.
An die Gespräche mit guten Freunden und Fürsorgern.
Monate im Krankenhaus, den Auszug aus der Wohnung.
Meine neue Arbeit und die Wiederaufnahme von Übersetzungen. Die missglückte Affäre mit Maureen. Die missglückte Reise mit B.
Wo befand ich mich?
Eine Ameise kroch mir über den Hals. Die Möwen schrien. Wo?
Es mussten eine Minute oder mehr vergangen sein, als das Bewusstsein plötzlich wieder einsetzte, und das, was mich zurückgeführt hatte, war das Husten.
So deutlich, als würde sie hier neben mir im Sand liegen, hörte ich noch einmal Ewas Husten während Beethovens Violinkonzert, und das war ein Gefühl ... ja, ich glaube, das muss das gleiche Gefühl gewesen sein, das man empfindet, wenn man erschossen wird. Oder wenn der elektrische Stuhl mit dem Strom gekoppelt wird.
Ich überlebte. Schloss die Augen und holte die Cidreflasche aus meiner Plastiktüte. Trank vorsichtig einen Schluck und zündete, immer noch ohne die Augen zu öffnen, eine Zigarette an.
Während ich sie rauchte, blieb ich liegen, rührte mich nicht. Langsam kam ich zur Ruhe, und um mein Gehirn mit etwas Neutralem zu beschäftigen, versuchte ich über die willkürlichen Mechanismen des Gedächtnisses nachzudenken.
Oder gab es da keine Willkür? Ist das Gedächtnis – oder das Vergessen, was ich natürlich eigentlich meine – unsere einzige wirklich wirksame Medizin gegen das Leben?
Ich denke schon. Dachte das zumindest, während ich da in meiner Grube im Sand lag, und es gibt wahrscheinlich nichts, was mir seitdem Grund gegeben hat, meine Meinung diesbezüglich zu ändern.
Das Vergessen.
Auf jeden Fall erholte ich mich nach wenigen Minuten. Ich zog mich über den Rand, um nach dem Kirschgartenhof Ausschau zu halten. Das Haus wurde größtenteils von den Fichten verdeckt, aber der rote Mercedes stand noch dort, und aus dem Schornstein, der knapp über die Bäume hinausragte, schlängelte sich ein dünner Rauchfaden, der sogleich vom Wind zerrissen wurde.
Ich schaute auf die Uhr. Halb drei. Ich sank wieder zurück in den Sand. Formulierte zwei Fragen:
Hatte man die Absicht, über Nacht zu bleiben?
Wann war es dunkel genug, dass ich mich vorwagen konnte?
Während ich noch einmal ein wenig von meinem Proviant nahm, kam mir der Gedanke, dass ja viel von der Lage der Sonnenuhr selbst abhängig war und dass ich mich auf jeden Fall vortasten und sie bei Tageslicht lokalisieren musste. In der Dunkelheit herumzuschleichen und sie suchen zu müssen, das sagte mir nicht gerade zu.
Ein paar Stunden später wusste ich, was ich wissen musste. Die Sonnenuhr war wirklich eine so zweifelhafte Geschichte wie in Reins Text angedeutet – eine überdimensionierte, gespreizte Bronzeskulptur, in einsamer Majestät mitten auf der großen Rasenfläche platziert.
Weitere Kostenlose Bücher