Barins Dreieck
eingetrudelt. Ich begab mich nie wieder hoch in die Berge, und von einem Mauritz Winckler hörte ich nichts. Weder damals noch später.
Nach einer zweieinhalb Stunden langen Taxifahrt kam ich am Nachmittag des 30. August auf dem Flugplatz von Genf an, und kurze Zeit später konnte ich an Bord des normalen Abendflugzeugs gehen. Die ganze Reise wurde vom Konsulat bezahlt, etwas, das – soweit ich es verstanden habe – in so einem Fall üblich ist.
Die erste Zeit nach meiner Heimkehr verlief ohne größere Intermezzi. Ewas und mein Bekanntenkreis hatte sich auf nur vier, fünf Personen beschränkt, die anfangs mit so einer Regelmäßigkeit auftauchten, dass ich schon den Verdacht hegte, sie hätten einen Terminplan untereinander ausgemacht. Erst ab Ende September nahmen die Besuche normalere Abstände an, und ich konnte mich an die Einsamkeit gewöhnen und mich ihr anpassen.
Über unsere Polizeibehörden wurde ich laufend darüber unterrichtet, wie die Suche nach Ewa verlief. Eine Zeit lang hatte man sogar einen Inspektor ganztägig auf den Fall angesetzt. Ich schaute normalerweise einmal die Woche im Revier vorbei – freitagnachmittags, wenn ich von meiner Arbeit kam – , um die letzten Neuigkeiten zu erfahren, die sich jedesmal höchstens auf neue Vermutungen und Hypothesen beschränkten. Ab Anfang Oktober bekam der Inspektor andere Aufgaben zugeteilt, und wir beschlossen, dass wir ebenso gut voneinander hören lassen konnten, wenn etwas Konkreteres auftauchte.
Was niemals passierte.
Es war mitten in diesem Monat – im Oktober –, dass ich meinen ersten Versuch startete, Mauritz Winckler zu finden. Natürlich in allergrößter Heimlichkeit.
Aus einigen Telefongesprächen erfuhr ich, dass er weggezogen war und offenbar in irgendeinem anderen europäischen Land lebte. In welchem, das wusste niemand, und ich war auch nicht so erpicht darauf, es herauszubekommen.
Im November schließlich rechnete wohl kaum noch jemand damit, dass Ewa zurückkommen würde. Eine neue Frau bekam ihren alten Job, und Frau Loewe, Ewas Mutter, zu der wir beide außerordentlich schlechte Beziehungen gehabt hatten, ließ von sich hören und wollte wissen, ob wir nicht eine Art Gedenkgottesdienst veranstalten sollten. Ich erklärte ihr, dass es nicht üblich ist, verschwundene Menschen zu beerdigen, und dass ich daran nicht interessiert sei.
Genau eine Woche nach diesem Gespräch ereignete sich mein Zusammenbruch. Er ereignete sich, ohne jedes Vorspiel, irgendwann zwischen drei und vier Uhr in der Nacht auf einen Dienstag. Zur Wolfsstunde also.
Ich erlebte ihn, indem ich zunächst aufwachte und nach ein paar schwarzen Sekunden mich in einem Fall wiederfand, ich fiel oder wurde vielmehr in ein schwarzes Loch hineingesogen. Ich fiel und fiel, die Geschwindigkeit war Schwindel erregend, das Gefühl schrecklich. Ich habe später versucht, es zu beschreiben, aber jedes Mal haben die Worte mich im Stich gelassen. Und mit der Zeit habe ich begriffen, dass es keine dafür gibt.
Man fand mich blutig und verletzt, aber immer noch bei einer Art von Bewusstsein, auf dem Bürgersteig unter meinem Schlafzimmerfenster, und es dauerte, wie gesagt, ungefähr zehn Wochen, bis ich wieder ins gleiche Bett zurückkriechen konnte.
Ich möchte behaupten, dass ich zu diesem Zeitpunkt ein anderer Mensch geworden war.
I n den zehn, zwölf Tagen, die auf meinen Ausflug ans Meer folgten, hielt ich mich äußerst genau an festgelegte Routinen. Ich war immer schon an Ort und Stelle, wenn Frau Moewenroedhe die Türen zur Bibliothek öffnete, hatte meistens bereits ein paar Minuten draußen auf dem Bürgersteig gewartet. Wir wechselten immer noch nicht viele Worte – meistens nur einen kurzen Kommentar hinsichtlich des Wetters, der frühe Frühling hielt sich, und nachmittags konnte ich durch mein Fenster neben meinem Arbeitstisch sehen, wie die Leute in kurzen Hemdsärmeln und in dünnen, leichten Sommerkleidern die Moerkerstraat entlanggingen. Und das, obwohl wir erst Mitte März hatten. Aber drinnen im Staub der Präsenzbibliothek herrschten das ganze Jahr über die gleichen Bedingungen, und es beschäftigte mich nicht weiter, dass die Natur offenbar etwas aus dem Gleis geraten war.
Außerdem hob ich nur im Ausnahmefall den Blick so weit, dass ich hinausschauen konnte. Zielbewusst, teilweise fast mit dem Gefühl der Besessenheit, arbeitete ich mich durch die letzten vierzig Seiten von Reins Text. Ich bemühte mich, in meiner
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