Barins Dreieck
ein warmer, weicher Frühlingsregen – und dass sich vor der offenen Balkontür ein nasser Fleck bildete, der schnell größer wurde.
E s war die Doris mit den Sommersprossen – im Vlissingen gab es zwei Kellnerinnen namens Doris, beide um die fünfundzwanzig, beide blond, beide schön auf diese kühle nordeuropäische Art, aber nur eine von ihnen hatte Sommersprossen –, die Doris mit den Sommersprossen also, die irgendwann gegen vier Uhr nachmittags aufmerksamkeitsheischend den Finger hob und den Ton des Fernsehapparats, der ganz hinten in einer Ecke des Lokals an der Decke hing, lauter drehte.
Ich habe immer wieder an diese Kurznachrichten denken müssen, hatte das Gefühl, als ich das Vlissingen verließ, ich hätte es in einer Art Zeitlupe gesehen, da doch alles mit so einer absurden Deutlichkeit haften blieb: die leicht aufgerissenen Augen der Reporterin, als glaubte sie selbst nicht so recht, was sie da verkündete, ihre Stimme, ihre berufsübliche Phrasierung und professionelle Unberührtheit, über einem Abgrund unterdrückter Erregung balancierend.
Und die Bilder.
Des Gefängnisses. Des Ganges. Der Zellentür und der Polizeibeamtin, die vollkommen unberührt die Fragen des unsichtbaren Reporters in ein blaues Mikrofon mit dem Emblem von Kanal 5 hinein beantwortete.
Und die Worte, die immer noch in mir zu sitzen scheinen, und aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Doris das Rauchen vergisst, so dass die Asche an ihrer Zigarette schließlich so lang wird, dass sie herabfällt.
»Können Sie uns erzählen, was passiert ist?«, fragt der Reporter und hustet dabei zweimal, einmal direkt ins Mikrofon.
»Ja ...«, zögert die Polizeibeamtin anfangs. »Sie hat um Papier und Stift gebeten, und es gibt keine Vorschrift, die das verbietet.«
»Sie haben ihr Papier und Stift gegeben?«
»Meine Kollegin.«
»Ihre Kollegin hat ihr Papier und Stift gegeben?«
»Ja.«
»Und dann?«
»Dann wollte ich ihr sagen, dass sie ihren Termin mit dem Pfarrer hatte.«
»Mit dem Pfarrer?«
»Ja, sie hatte darum gebeten, mit einem Pfarrer sprechen zu dürfen.«
»Sie gingen zu ihrer Zelle?«
»Ja. Ich habe durch die Klappe geguckt und gesehen, dass sie auf dem Boden liegt.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich habe aufgeschlossen und bin hineingegangen. Sie lag auf dem Bauch. Zuerst habe ich sie gefragt, wie es ihr geht, und als sie nicht geantwortet hat, habe ich sie umgedreht ... Es war ein kleiner Blutfleck auf dem Boden, und dann habe ich ihr Auge gesehen.«
»Sie wussten, was passiert war?«
»Ja. Sie hat sich den Stift ins Auge gerammt.«
»Den ganzen Stift?«
»Ja. Es schaute nichts mehr heraus.«
»War sie tot?«
»Ja. Ich habe Hilfe herbeigerufen, und wir konnten nur noch feststellen, dass sie tot war.«
»Wie haben Sie reagiert?«
Anfangs Schweigen. Die Kamera zoomt langsam an das Gesicht der Polizeibeamtin heran, und man kann deutlich sehen, dass sie nicht weiß, worauf sie ihren Blick richten soll. Aber immer noch keine besondere Erregung. Es zuckt nur ein paar Mal in ihrem linken Mundwinkel.
»Es war schrecklich ...«, sagt sie schließlich, eher den Konventionen verpflichtet, wie ich denke.
Dann erzählt der Reporter, dass er Erich Molder heißt und dass sie zurück ins Studio geben.
»Wir wiederholen«, sagt die Frau mit den aufgerissenen Augen, »dass Mariam Kadhar, die Ehefrau des verstorbenen Schriftstellers Germund Rein und vor kurzem wegen Mordes zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, sich vor knapp einer Stunde im Untersuchungsgefängnis in der Burgislaan das Leben genommen hat. Hier wartete sie darauf, ins Frauengefängnis von Bossingen überführt zu werden. Mariam Kadhar wurde neununddreißig Jahre alt. Wir bringen weitere Einzelheiten in unserem Abendprogramm.«
Damit ist die Sendung beendet. Doris zieht endlich wieder an ihrer Zigarette, ich betrachte ihren gepunkteten Unterarm – wie er sich hebt und senkt, während sie das tut. Dann schaltet sie den Fernseher aus, ich stehe von meinem Platz am Fenster auf und verlasse das Lokal. Draußen auf der Straße trifft mich der grelle Sonnenschein wie ein elektrischer Schlag. Ich bleibe einen Moment lang mit geschlossenen Augen stehen, halte mich an einem Fahrrad fest, das gegen die Wand gelehnt ist. Ich spüre eine eigenartige, intensive Übelkeit, und der Metallgeschmack auf der Zunge ist scharf und deutlich.
Nach ein paar Sekunden habe ich mich wieder im Griff und gehe nun in die Ferdinand Bolstraat.
Ich
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