Barins Dreieck
ihr schon lange hier?«, fragte ich.
»Drei Jahre.«
»Drei Jahre? Seit damals ...?«
»Ja«, antwortete Mauritz Winckler. »Seit damals.«
Wir tranken unseren Tee. Ich schaute auf Ewas Muttermal auf der Wange und erinnerte mich daran, wie wir in einem Hotel in Nizza einmal in einem unserer allerersten Jahre gegenseitig unsere Muttermale gezählt hatten.
»Wie lange bleibst du?«, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Nicht mehr so lange, nehme ich an. Meine Geschäfte neigen sich dem Ende zu.«
»Ich verstehe«, sagte Mauritz Winckler, und ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte, was er denn bitte schön wohl verstand.
Wieder schwiegen wir. Vermieden, uns anzusehen. Mauritz Winckler aß einen weichen Kuchen.
»Was ist in Graues passiert?«, fragte ich schließlich.
Ich hatte angenommen, dass sie sich zumindest einen Blick zuwerfen würden, aber das taten sie nicht. Stattdessen hoben sie beide ihren Blick und sahen mich an mit einem ...
. . . mit einem Ernst, den ich als fast an der Grenze zur Unverschämtheit empfand, schließlich war ich als ein Gast mit den besten Absichten gekommen. Ich leerte schnell meine Teetasse, stellte sie mit einem nachdrücklichen Klirren auf die Untertasse und richtete mich auf.
»Was ist in Graues passiert?«, wiederholte ich mit etwas lauterer Stimme.
Mauritz Winckler schüttelte langsam den Kopf. Ewa stand auf.
»Ich glaube, es ist das Beste, wenn du jetzt gehst«, sagte sie.
Ich blieb noch einen Augenblick lang sitzen und ging mit mir selbst zu Rate, dann stand ich auf. Ewa ging wieder vor in den Flur, und als sie mit der Hand auf der Türklinke dastand, um mich hinauszulassen, fragte ich zum dritten Mal, jetzt mit leiser Stimme, damit Mauritz Winckler es nicht hören konnte.
»Was ist in Graues passiert?«
Sie öffnete die Tür.
»Ich denke gar nicht daran, dir das zu erklären, David«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«
Sie sah mich mit dem gleichen fast quälenden Ernst an.
»Du fragst, was in Graues passiert ist. Gerade du solltest wissen, dass du kein Recht dazu hast.«
»Kein Recht?«
»Du hast nicht das Recht zu erfahren, was passiert ist.«
Ich erwiderte nichts.
»Vielleicht ist das gerade das Beklemmendste an allem«, fügte sie hinzu und wandte ihren Blick ab. »Dass du das nicht begreifst.«
Zwei sich vollkommen widersprechende Gedanken tauchten in meinem Kopf auf. Ich wog sie schnell gegeneinander ab, dann gab ich auf.
»Leb wohl, Ewa.«
Ich verließ sie, ohne sie noch einmal genauer anzusehen.
Zehn Minuten später hatte ich die Windemeerstraat erreicht. Auf dem breiten Fußweg spazierte ich in südwestlicher Richtung aufs Zentrum zu, die untergehende, aber immer noch wärmende Sonne im Gesicht. Es waren ziemlich viele Menschen unterwegs, ab und zu schloss ich für ein paar Sekunden die Augen und stieß in dem Gedränge mit einer Schulter zusammen – ich erinnere mich, dass es mir ein eigentümliches Gefühl der Dazugehörigkeit gab –, aber insgesamt verhielt ich mich nicht besonders auffällig verglichen mit den anderen Menschen in der Menge.
Ich ließ drei Straßenbahnen passieren, bevor ich die Gelegenheit nutzte. Das war an und für sich eine sehr einfache Prozedur – zwei Schritte schräg auf die Straße, und dann hörte plötzlich alles auf.
Alles.
III
D ennoch kam wieder eine Zeit, und ich begriff nicht, wozu sie gut sein sollte.
Eine Zeit, dünner als ein Vakuum, öder als das offene Meer, aber dann tauchte eines Tages Henderson mit seiner verrückten Behauptung und seinen Bildern auf.
Erneut irrlichterte ein Punkt in dem Nichts, verzögerte seinen Lauf und wuchs, und ich hatte bereits angefangen, ihm mit dem Blick zu folgen.
U nd Sie haben Sie verlassen und sind wie ein getretener Hund davongetrottet?«
Ich antworte nicht. Schiebe mir ein paar ölige Oliven in den Mund und schaue übers Wasser. Die Sonne ist eine Handbreit über dem Horizont in ihrem üblichen Dunst untergegangen, und die Stille ist fast vollkommen. Wir sitzen draußen auf der Terrasse, jeder in einem dieser Korbsessel, die er – so behauptet er jedenfalls – selbst entworfen hat und von irgendwelchen Handwerkern in einer der Städte auf der Ostseite hat bauen lassen. Er hat auch das Haus zum Teil gebaut. Der kleine Kern von dreißig, vierzig Quadratmetern ist mit der Zeit auf das Doppelte angewachsen. Und auch modernisiert worden: Wasserleitungen von der Quelle in den Bergen wurden herangeführt, elektrischer Strom
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