Barins Dreieck
es mir tatsächlich, ein paar Stunden in Ruhe und Frieden zuzubringen. Ich erinnere mich nicht mehr, worüber ich nachdachte und mit wem ich redete – ob ich mich überhaupt auf derartige Dinge einließ. Ich weiß nur noch, dass ich ziemlich viel rauchte und trank, ganz in Übereinstimmung mit meinen Absichten, und dass ich absolut nicht sagen kann, wann ich mich eigentlich von dort wieder aufmachte.
Aber nach Hause kam ich jedenfalls.
SAMSTAG, 19. APRIL
I ch stand kurz vor neun Uhr auf. Es war mir nicht gut bekommen, im Baxi’s zu sitzen, das spürte ich sofort. Eine schwarze Symphonie pulsierte im Hinterkopf, und das Zähneputzen brachte eine leichte Übelkeit mit sich. In der letzten Zeit hatte ich größtenteils nüchtern gelebt, Kristine war diejenige, die nach einigen Unregelmäßigkeiten vor ein paar Jahren unseren neuen Stil eingeführt hatte, und an diesem Morgen beschloss ich, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.
Ich trank Orangensaft mit einem rohen Eigelb und eine halbe Tasse schwarzen Kaffee, mehr schaffte ich nicht. Ich dachte an Kristine. Vielleicht sollte ich ein wenig mehr über sie und unsere Beziehung erzählen, aber ich habe keine Lust dazu. Es geht hier nicht um sie, und wenn ich das Alte außen vor lassen kann, dann ist sie sicher nur dankbar dafür.
Ich erreichte Punkt halb elf Uhr die Praxis. Als Erstes öffnete ich beide Fenster, um die abgestandene Luft herauszulassen. Ich spürte sie an diesem Tag besonders deutlich, verbunden mit dem schlechten Geschmack im Mund und dem kräftigen Sonnenschein draußen in der Welt. Vogelgesang toste aus dem Universitätspark, und ich streckte mich mit der Mappe über Gisela Enn auf dem Sofa aus.
Sie enthielt ein einziges Blatt Papier. Darauf stand:
G. E. rief Freitagnachmittag an. Wollte unbedingt einen Termin. Kommt Samstag 11. Vorsicht.
Zwei Zeilen. Ich schenkte Walther einen Gedanken der Dankbarkeit. Das waren also die Instruktionen, von denen er gesprochen hatte. Ich blieb liegen und schaute das Papier an. Das einzige, was möglicherweise als Hinweis angesehen werden konnte, war das Wort »Vorsicht«.
Trotzdem war ich nicht besonders überrascht. Ich hatte das schon häufiger mitgemacht. Walther kann so sein. Ich schob die Hände hinter den Nacken und starrte an die Decke. Registrierte die schmetterlingsleichte Vibration in den Schläfen und hinter den Augen, die immer am Tag danach aufzutreten pflegen, die ich aber seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Gisela Enn. Ich überlegte eine Weile, wie ich sie empfangen sollte. Ob ich direkt Augenkontakt aufnehmen sollte oder ob es besser wäre, bis zum Handschlag zu warten. Das sind die einzigen beiden Varianten, die wir zulassen, Walther und ich. Ja, wenn ich sage Walther und ich, dann meine ich eigentlich nur Walther, da wir ja ein- und dieselbe Person sind. In der Firma jedenfalls. Sowohl er als auch ich stellen Walther Borgmann dar, und da er der richtige Walther Borgmann ist, muss ich mich natürlich in das dreinfinden, was er sagt. Das ist nicht mehr als recht und billig. Er ist es, der die Zulassung hat, und es ist seine Praxis.
Außerdem war er schon mehrere Jahre dabei, bevor ich überhaupt ins Bild kam. So ist die Lage, und damit habe ich auch erklärt, warum ich mich seinem Wunsch im Baxi’s nicht ohne weiteres widersetzen konnte.
Ich stand auf und ging in das hintere Zimmer. Sah nach, ob es Selters im Kühlschrank gab, dann zog ich die Arbeitskleidung an.
Schwarzer Pullover und dunkle Jacke aus so einem schlabbrigen Synthetikmaterial. Wir legen großen Wert darauf, immer die gleiche Kleidung zu tragen. Zum Teil hat das eine beruhigende Wirkung auf die Klienten, wie Walther sagt, zum Teil verringert es das Risiko, dass unser Doppelspiel aufgedeckt werden könnte. Es hängen immer mindestens zwei Jacken im Schrank sowie vier, fünf Polohemden. Was Hosen und Schuhe betrifft, so sind diese von geringerer Bedeutung, die Klienten haben meistens während der Konsultation nur unseren Oberkörper vor Augen. Wir sitzen üblicherweise hinter dem Schreibtisch.
Als ich Walther damals vor drei Jahren traf, hatte ich ihn nicht mehr gesehen, seit wir die Schule verlassen hatten. Ich hatte gar keine Ahnung, dass er in die Stadt zurückgekehrt war, wusste nichts darüber, wie das Leben ihm mitgespielt hatte.
Das Einzige, was offen zu Tage trat, als wir uns plötzlich Aug in Aug gegenüberstanden, war, dass wir uns immer noch wie ein Ei dem anderen ähnelten. Nicht nur im Gesicht, sondern
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