Barins Dreieck
gebracht hat, mit ihm zu gehen. Später war ich jedoch einmal in der Wohnung. Dritter Stock mit Blick auf die Bahngleise ... aber verrußte Fenster, durch die man kaum gucken konnte. Das größere Zimmer war nicht möbliert ... ein kahler Parkettboden, graugelbe Tapeten mit dunklen Flecken, wo einmal Bilder gehangen haben. In dem kleinen Zimmer nur eine große Matratze auf dem Boden. Ein paar schmutzige Kissen, eine Decke und ein paar Tücher ... kein Laken. Aber ein großer Spiegel ... dort haben sie sich aufgehalten.«
Sie wischte ein Staubkorn von der Onyxscheibe.
»Die Küche ging zum Hof. Ein Klapptisch und zwei Stühle. Der reinste Müll- und Abfallhaufen. Eine Speisekammer, in der er sie eingesperrt hatte. Es roch verrottet, Doktor Borgmann. . . nach Verwesung. Keines der Fenster ließ sich öffnen. Sie waren zugenagelt. Und die Tür hatte fünf verschiedene Schlösser. Es dauerte fast eine Stunde, bis die Polizei hineinkommen konnte.«
Plötzlich spürte ich, wie sich meine Magenmuskeln zusammenzogen, und mir war klar, dass ich mich übergeben musste. Ich weiß nicht, ob es an den Butterbroten, am Punsch vom gestrigen Abend oder an ihrer Schilderung lag. Vermutlich war es eine Kombination von allem. Im Stillen verfluchte ich meine Schwäche, dann bat ich sie, mich zu entschuldigen, und fragte, wo denn die Toilette sei.
Sie sah mich etwas verwundert an, rief nach Zandor, und bald befand ich mich im Badezimmer. Hier war es ungefähr wie überall. Tiefblaue Kacheln mit grauweißer Marmorierung, die Handtücher dick wie aufgerautes Rinderleder, die Armaturen aus Kupfer. Die Badewanne groß genug, um darin schwimmen zu lernen.
Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser und ließ mich auf dem Toilettenstuhl nieder. Nach einer Weile zogen sich die Wellen der Übelkeit zurück. Die Krämpfe ließen nach. Ich trocknete mich mit einem feuchten Handtuch ab und kehrte zu meiner Gastgeberin zurück.
Sie saß immer noch im gleichen Sessel und verriet mit keiner Miene, was sie von meiner Unpässlichkeit hielt.
»Entschuldigen Sie bitte, Frau Enn. Ob Sie so gut sind und fortfahren?«
Sie sah mich an. Etwas mitleidig, da gab es keinen Zweifel.
»Es ist schon eigenartig mit den Gefühlen, finden Sie nicht auch, Doktor Borgmann? Manchmal habe ich das Empfinden, als wäre es nur eine Art ... einmaliger Erscheinung.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich weiß es nicht genau, aber ist es nicht so, dass unsere Fähigkeit, etwas sehr Intensives zu erleben – Trauer oder Verzweiflung oder Wut –, begrenzt ist, wenn man alles in Betracht zieht? Mit der Zeit drängt sich immer etwas anderes in den Vordergrund, und zum Schluss gibt es nur noch eine Leere ... eine Art Verstummen. Ein Vakuum.«
Ich wartete.
»Alois, zum Beispiel.«
»Wer ist Alois?«
»Der Mann. Alois ist der Mann. Der Judith fünfzehn Tage lang in dieser Wohnung gefangen hielt und ununterbrochen vergewaltigt hat.«
»Ich ...«
Aber gerade jetzt fand ich keine Worte.
»Nach sechs Jahren hat sich nichts verändert. Mein Hass und meine Wut sind noch immer gleich stark ... und mein Wunsch, mich zu rächen. Ich glaube, Sie werden das verstehen können, Herr Doktor. Es lässt nicht nach, die Zeit bedeutet nichts. Aber es hat eine Art ... Verschiebung stattgefunden.«
»Verschiebung?«
»Ja, etwas in der Art. Vom Herzen zum Hirn. Ich wüte nicht mehr herum, ich schreie nicht mehr. Fühle nichts. Mein Hass ist rein und kalt ... effektiv, kann man vielleicht sagen. Ich weiß nicht, ob das eine normale Reaktion ist. Was meinen Sie?«
»Vermutlich.«
»Was ich damit sagen will, ist, dass wir vielleicht nur ein einziges Mal das richtige, wahre Gefühl erleben ... beim ersten Mal. Danach ist alles nur eine Frage der Kopien, alles verblasst. Wissen Sie, was ich gemacht habe, als ich das erste Mal Alois begegnet bin, Herr Doktor?«
»Nein.«
»Ich habe mir selbst zwei Finger gebrochen, einen nach dem anderen. Das war am ersten Verhandlungstag. Man kann es immer noch sehen. Sie sind nie wieder richtig zusammengewachsen.«
Sie streckte die linke Hand über den Tisch. Der Zeige- und der Mittelfinger zeigten deutlich zur Seite, auch die Nägel erschienen mir ein wenig missgebildet.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich da Ihrer Meinung bin, Frau Enn ...«
Sie zog die Hand zurück.
»Natürlich stimmt das für Ihren Fall«, fuhr ich fort, »aber andere Menschen können sehr wohl auf ganz andere Weise reagieren. Wollen Sie mir nicht erzählen, was
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