Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
Vom Netzwerk:
nichts. Lehnte mich im Stuhl zurück und setzte eine neutrale Miene auf.
    »Judith ist unser einziges Kind. Ich hatte eine schlimme Fehlgeburt, als sie drei Jahre alt war. Ich kann keine weiteren Kinder bekommen, ich möchte, dass Sie das wissen, Doktor Borgmann.«
    »Wie alt ist Ihre Tochter?«
    »Siebzehn. Sie war elf, als es passierte.«
    Sie machte eine kleine Pause. Ich ließ sie verstreichen.
    »Sie warten, dass ich zur Sache komme, nicht wahr?«
    »Ich bin es gewohnt zu warten, Frau Enn.«
    »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie werden alles erfahren, ich werde nichts auslassen. Wir wohnten also zu dieser Zeit in Weill ... hatten ein Haus am Rande der Stadt. Bei Leishof, draußen am Meer. Judith ging im Zentrum zur Schule ... in der Hagmaar Allee. Ich weiß nicht, ob Sie Weill kennen?«
    »Ein wenig.«
    »Meist war ich diejenige, die sie mit dem Auto zur Schule fuhr ... und sie nachmittags wieder abholte. Manchmal ist sie mit dem Bus gefahren oder mit Eltern von Schulfreunden. Mein Mann hat sie auch ab und zu mal gebracht, aber in der Regel war er mit seiner Arbeit beschäftigt.«
    Ich nickte. Das konnte ich mir gut vorstellen. Industriemagnaten haben sicher so einiges um die Ohren. Ich nahm mir noch ein Stück Brot. Etwas warnte mich, dass ich sicher bald den Appetit verlieren würde.
    Eine vollkommen richtige Vermutung, wie sich herausstellte.
     
    »Es war am 5. September, als es geschah, an einem Donnerstag. Doktor Borgmann, eine Sache muss ich klarstellen: Sie dürfen nicht glauben, dass das, was ich Ihnen berichten werde, mich unberührt lässt. Es ist nur so, dass ich es schon so lange in mir trage, jedes Detail. Es ist klar wie ein Kristall, alles zusammen, aber auch ... irgendwie eingekapselt.«
    »Ich verstehe.«
    Sie beugte sich vor, umklammerte mit den Händen die Armlehnen.
    »Das neue Schuljahr hatte gerade angefangen. Judith war elf Jahre alt. Wir waren erst ein paar Tage vorher zurückgekommen, aus Korsika, wir hatten dort ein Haus. Drei Wochen lang waren wir dort gewesen, es waren sehr schöne Wochen. . . ausnahmsweise hatte Claus es geschafft, sich freizumachen. Wir hatten Zeit für uns. Nur wir drei, wie eine richtige Familie.«
    Ich stutzte. Sie vielleicht auch, denn sie brach ab und zündete sich eine Zigarette an.
    »Hinterher hatte ich immer das Gefühl, dass darin ein besonderer Sinn gelegen haben könnte. In diesen letzten Wochen, direkt vor ...«
    Wieder verstummte sie. Es war offensichtlich, dass sie immer noch nicht so recht wusste, wie sie zur Sache kommen sollte. Nach einer Weile fragte ich:
    »Was ist an diesem 5. September passiert?«
    Sie schob sich das Haar zurück. Zog einige Male an der Zigarette, bevor sie weitersprach.
    »Entschuldigen Sie. Der 5. September – das war ein schöner Tag, so ein richtiger Spätsommertag, wissen Sie. Mein Mann war geschäftlich in London. Er sollte am nächsten Tag zurückkommen, am Freitag. Schon morgens war die Luft warm. Wir waren vor dem Frühstück schwimmen, Judith und ich.
    Sie schwamm so gern, konnte stundenlang in den Wellen liegen und sich tragen lassen. Ich fuhr sie zur Schule, wir lachten und alberten den ganzen Weg über miteinander. Judith machte eine Musiklehrerin nach, die sie neu bekommen hatte. Sie hatte ein Talent, andere zu imitieren, Doktor Borgmann ... ein großes Talent, das sagten alle. Ich hatte an diesem Tag einiges zu erledigen, ziemlich viele verschiedene Dinge ... Wir verabredeten, dass ich sie um zwei Uhr vor der Schule abholen würde, wenn ich es schaffte. Würde ich mich verspäten, sollte sie den Bus nehmen, wie immer. Die Haltestelle lag direkt vor dem Schulzaun, ähnliche Verabredungen hatten wir schon häufiger getroffen, das war nichts Besonderes. Leider wurde ich ... aufgehalten.«
    Sie verstummte. Drehte den Kopf und schaute mir direkt ins Gesicht. Plötzlich fegte ein kalter Wind durch den Garten. Ich erschauerte und hätte gern eine Decke über den Beinen gehabt.
    »Sie wurden aufgehalten?«
    Sie schaute woanders hin.
    »Ja, ich wurde aufgehalten. Ich hatte eine Verabredung mit dem Kunstverein wegen einer Ausstellung. Ich beschäftigte mich zu der Zeit ziemlich viel mit Kunst. Erst gegen drei Uhr war ich fertig und fuhr dann natürlich direkt nach Hause. Judith war nicht da ...«
    Sie stand auf. Ging ein paar Schritte über den Rasen und blieb dann stehen, den Rücken mir zugewandt. Einen Augenblick lang sah es aus, als betrachte sie etwas direkt über der Mauerkrone, ein kleines

Weitere Kostenlose Bücher