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Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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dem Bett lag. Der Mund zu einem dünnen Strich zusammengekniffen. Soweit ich sehen konnte, bewegten sich die Kiefer ein wenig, immer rundherum, als würde sie an etwas saugen. Ich wandte mich ab. Fühlte mich schlechter, als ich zu zeigen bereit war.
    »Trotzdem müssen wir sie anfassen. Jeden Tag. Ihre Muskelanspannung ist gefährlich stark. Wir zwingen ihr jeden Tag eine halbe Stunde Massage auf. Wir wechseln uns ab, Zandor und ich, manchmal machen wir es auch zusammen ... das ist keine schöne Arbeit, Doktor Borgmann, aber die Ärzte betonen immer wieder, dass es nötig ist. Judith ist jedes Mal wieder gleich stark verängstigt. Und oft schreit sie anfangs.«
    Sie machte eine Pause. Ging zur Balkontür am anderen Ende des Zimmers. Ich drehte den Kopf und betrachtete das kleine Bild.
    Die Mutter und der gekreuzigte Sohn.
    Die Mutter und die vergewaltigte Tochter?
    Warum hatte man eine Pietà hier hingehängt?
    Plötzlich spürte ich, wie mir das Blut in die Hände strömte, und eine Sekunde lang war mir klar, dass ich es zerstören wollte. Hingehen und das Bild von der Wand reißen, ganz einfach. Es in Stücke reißen oder verbrennen, damit es nie wieder da hängen könnte mit seiner durchtriebenen preziösen Art, ja, ich weiß, wovon ich rede ... aber nach dem ersten Impuls war alles wieder genauso lähmend wie vor ein paar Tagen, als ich über das Leben an sich nachdachte.
    Genau das, lähmend.
     
    »Was soll ich Ihrer Meinung nach tun, Frau Enn?«
    Wir saßen wieder in den Ledermöbeln. Zandor hatte Sherry und eine Schale mit Nüssen hingestellt. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er den dünnen Vogelkörper da oben massierte. Es war grotesk. Ich versuchte mir außerdem vorzustellen: ein paar schmutzige Kissen. Einen großen Spiegel. Eine Elfjährige.
    »Sie haben keinen Vorschlag, Herr Doktor?«
    »Wie meinen Sie das?«
    Sie zögerte einen Moment. Vielleicht wartete sie auch nur. Wartete, ob ich nicht etwas ... verraten würde?
    »Ich bitte nur um einen Vorschlag.«
    »Einen Vorschlag? Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen, Frau Enn. Was sollte ich ausrichten können, was Sie nicht bereits ... was die Ärzte nicht bereits versucht haben? Sie haben doch alle denkbaren Spezialisten aufgesucht, wie Sie erzählt haben. Mir ist nicht klar, was für eine Art Hilfe ich Ihnen geben könnte, die Sie nicht bereits ...«
    Ich brach von allein ab. Aus irgendeinem Grund schien es mir schrecklich anstrengend, diese Worte auszusprechen ... sie hallten in meinen Ohren wider, als ob ... als ob ich tatsächlich hier sitzen würde und versuchen, sie hinters Licht zu führen. Ich dachte ein weiteres Mal an Walther und verfluchte ihn zum dritten oder vielleicht sogar schon zum vierten Mal an diesem Tag.
    »Verzeihen Sie mir«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Ich habe vergessen, dass Ihnen noch nicht alles wirklich klar ist, Doktor Borgmann. Es ist vielleicht besser, wenn wir ein andermal darauf zurückkommen. Falls Sie bereit sind, unsere ... Treffen fortzusetzen?«
    Ich antwortete nicht. Lehnte mich nur im Sofa zurück und hoffte, sie würde mir eine Art Ausweg zeigen. Schaute dabei wieder auf die verwitterten Kalksteinfragmente. Dachte an nichts.
    Ich verließ die Villa Guarda zehn Minuten später. Ohne irgendeinen Ausweg gefunden zu haben.
    Aber mit einem weißen Umschlag.
    Ich riss ihn auf, als ich das Auto daheim in M. geparkt hatte. Er enthielt eintausend Gulden. Zwei glatte Fünfhundert-Gulden-Scheine. Ich hielt sie in der Hand, während ich über den Markt ging, und in einer plötzlichen Eingebung presste ich sie in eine Sammelbüchse für irgendein unterdrücktes Volk auf der anderen Seite der Weltkugel. Der farbige Jüngling lächelte aufmunternd und schenkte mir eine kleine Nadel, die ich am Revers befestigen konnte.
    Sie war gelb und schwarz. Mit einem Spaten und zwei Blutstropfen in Rot. Ich weiß nicht so recht, was es symbolisieren sollte, aber ich beschloss, sie Judith zu schenken, wenn ich die Chance haben sollte, sie wiederzusehen. Bis dahin befestigte ich sie auf der Innenseite meines Jackenrevers.

III

    DONNERSTAG, 24. – FREITAG, 25. APRIL

    Mein erster Gedanke war natürlich, so viel wie möglich von Walther in Erfahrung zu bringen.
    Den Abend über versuchte ich ihn mehrmals telefonisch zu erreichen, aber ohne Resultat. Je später es wurde (ich saß die ganze Zeit unten im Café in Gesellschaft von V und G, und später auch noch Ryszard), umso mehr Zweifel kamen mir aber. Da war etwas an

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