Barins Dreieck
weiter passiert ist ... wenn es denn weitere Geschehnisse gibt?«
»Gern, Doktor Borgmann. Die Polizei fand Judith in einem Zustand, der später als spastische Katatonie beschrieben wurde. Ich nehme an, Sie wissen, was das bedeutet.«
»So ungefähr.«
»Ich glaube, ich brauche ihre körperlichen Verletzungen nicht zu beschreiben. Sie können sie sich wohl vorstellen ... nein, ersparen Sie sich das lieber. Was die psychische Seite betrifft, so ist die Wunde nie verheilt. Judith ist heute noch so, wie wir sie damals gefunden haben. Nichts hat sich während der letzten sechs Jahre entwickelt oder verändert. Nichts, Herr Doktor. Sie ist stehen geblieben.«
Sie sah mich aus ihren Mandelaugen an, und ich hatte ganz deutlich das Empfinden, dass sie mich prüfen wollte. Plötzlich fielen mir zwei Dinge ein.
Walther? – Was hatte er damit zu schaffen?
Ich selbst? – Ich saß auf dem zweifarbigen Ledersofa in der Villa Guarda und hörte Gisela Enn zu. Das musste einen Grund haben.
»Sie werden sie gleich sehen, Doktor Borgmann. Dann können Sie sich selbst eine Meinung bilden.«
Während ich noch überlegte, fiel mir etwas anderes ein.
»Sie haben erzählt, dass Sie geträumt haben, Sie würden jemanden töten wollen. War dem nicht so?«
Gisela Enn verzog keine Miene.
E s war ein großes weißes Zimmer. Hätte sich gut als Künstleratelier geeignet. Das Licht, das durch die ovalen Dachfenster hereinflutete, war stark und ließ den vogelartigen Körper auf dem Bett noch kleiner erscheinen.
Die Einrichtung war spärlich. Grüne Pflanzen, weiße Korbstühle und ein Tisch aus Rohr. Ein Bücherregal mit wenigen Büchern. Ein einziges Bild. Eine Pietà über dem Bett.
Wir blieben in der Tür stehen. Das Mädchen auf dem Bett schien uns nicht bemerkt zu haben. Sie lag zusammengekauert da, mit angezogenen Knien, die Hände zwischen die Beine geschoben. Der Rücken war stark gebeugt, ihr Gesicht von langem dunklem Haar bedeckt. Ihre Kleidung war schwarz. Jeans und ein langärmliges Hemd. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich sie auf elf oder zwölf Jahre geschätzt.
»Da haben Sie sie, Doktor Borgmann. Judith, meine Tochter.«
Sie senkte ihre Stimme nicht. Das Mädchen musste jedes Wort hören, reagierte aber nicht. Ich war mir sicher, dass sie nicht schlief. Hinter dem strähnigen Haar gab es offene Augen, aus irgendeinem Grund war das ganz offensichtlich.
»Sie verbringt fast den ganzen Tag auf diese Weise. Das ist die gleiche Haltung, in der man sie auch gefunden hat.«
Wir setzten uns auf die Korbsessel. Sie knackten laut, wie Korbmöbel es tun.
»Es ist vielleicht nicht ganz korrekt, was ich über ihre Entwicklung gesagt habe ... dass sie still steht. Inzwischen isst sie, und sie geht zur Toilette. Das hat sie anfangs nicht getan. Die ersten Monate waren wir gezwungen, sie zu füttern, manchmal musste sie sogar an den Tropf. Sie ist auch nie aufgestanden, jetzt tut sie es zwar auch nicht besonders häufig ... Wie Sie sehen, ist sie auch nicht mehr gewachsen. Sie ist genauso klein, wie sie damals war.«
Es war kein besonders angenehmes Gefühl, hier zu sitzen und zuzuhören, während sie über ihre Tochter sprach, als ob diese gar nicht ... gar nicht anwesend wäre. Ich sagte das auch, aber Gisela Enn wischte den Einwand weg.
»Man gewöhnt sich daran, Herr Doktor. An alles gewöhnt man sich. Wir haben keinen Kontakt zu ihr ... Zum Schluss akzeptiert man sogar das. Sie ist unnahbar, glauben Sie mir. Wir haben es sechs Jahre lang versucht. Mein Mann hat letzten Herbst aufgegeben, Zandor wird mich in ein paar Wochen verlassen.«
Sie machte eine Geste mit dem Kopf.
»Dieses Mädchen kann keinen anderen Menschen an sich heranlassen. Sie hat genug an sich selbst und mit dem, was passiert ist. Wir haben kein Recht, noch einmal in ihre Welt einzudringen.«
Sie trat ans Bett und strich dem Mädchen das Haar aus dem Gesicht. Das Mädchen zuckte zusammen und jammerte leise.
»Sie erträgt keine Berührung«, erklärte Gisela Enn und richtete sich auf. »Sie kann andere Menschen von sich abschirmen, solange sie sie nicht berühren, es interessiert sie nicht, dass wir hier im Zimmer sind, aber wenn jemand sie streift, reagiert sie augenblicklich.«
Jetzt sah ich ihre Augen. Sie waren graublau und blass, unerwartet hell in dem ziemlich dunklen Gesicht, und sie schienen sich in irgendeiner Form gegen ihren Willen zu öffnen. Der Blick war auf einen Punkt auf dem Teppich fixiert, der vor
Weitere Kostenlose Bücher