Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
gefangene Raubkatze tigerte Nathanael in seiner Kammer auf und ab. Er saß nicht nur physisch in der Falle, und dass seine Tür abgeschlossen war, damit er nicht fliehen konnte, war noch sein geringstes Problem.
In eben diesem Augenblick war sein Diener Bartimäus im Tower eingekerkert und wurde sämtlichen Foltern unterworfen, die den obersten Zauberern des Staates einfallen mochten. Falls er in der Innenstadt tatsächlich ein Blutbad angerichtet hatte, hatte es der Dämon nicht anders verdient. Aber Nathanael war sein Herr und damit für die Verbrechen seines Dieners verantwortlich.
Was wiederum bedeutete, dass es die Zauberer auch auf ihn abgesehen hatten.
Unter der Folter würde auch die Furcht vor dem Unbeschränkten Bannzauber den Dämon nicht mehr davon abhalten, Nathanaels Namen preiszugeben, und dann würde ihm die Polizei einen Besuch abstatten. Und dann…
Schaudernd erinnerte sich Nathanael an die Blessuren, die Sholto Pinn am vergangenen Abend zur Schau getragen hatte. Die Konsequenzen würden alles andere als angenehm sein.
Selbst wenn ein Wunder geschah und Bartimäus dichthielt, musste sich Nathanael immer noch mit Underwood auseinander setzen. Sein Meister hatte ihm bereits damit gedroht, ihn zu verstoßen – wenn nicht Schlimmeres. Hatte er sich erst die Notizen durchgelesen, die er Nathanael weggenommen hatte, bestand kein Zweifel mehr, was für ein Wesen sein Gehilfe da beschworen hatte, und dann würde Underwood die ganze Geschichte aus ihm herauspressen. Wenn er an die Methoden dachte, mit denen ihn sein Meister zum Reden bringen konnte, lief es Nathanael kalt den Rücken runter.
Was sollte er bloß machen? Mrs Underwood hatte ihm einen Ausweg gewiesen. Sie hatte ihm geraten, einfach die Wahrheit zu sagen. Doch bei der Vorstellung, sich der Gehässigkeit und dem beißenden Spott seines Meisters auszusetzen, drehte sich Nathanael der Magen um.
Er gab es auf, über seine Zwangslage nachzugrübeln, zitierte den erschöpften Kobold herbei und schickte ihn ungeachtet seiner Proteste ein zweites Mal zum Tower von London. Aus sicherer Entfernung sah er voller Entsetzen eine wütende Horde grün geflügelter Dämonen wie Heuschrecken über den Mauern kreisen und dann plötzlich über die ganze Stadt ausschwärmen.
»Donnerwetter«, kommentierte der Zauberspiegel. »Echt Spitze. Mit diesen hochkarätigen Dschinn is nich gut Kirschen essen. Wer weiß«, fügte er hinzu, »vielleicht sind ja schon welche hierher unterwegs.«
»Such Underwood!«, fauchte Nathanael. »Wo ist er und was macht er?«
»Mann, wir sind ja heute ätzend drauf! Mal sehn… Arthur Underwood… Nö, tut mir Leid, der is auch im Tower. Da komm ich nich ran. Aber ich schätz mal…«, der Kobold kicherte in sich hinein, »…ich schätz mal, dass er sich grade mit deinem Spezi Bartimäus unterhält.«
Allem Anschein nach war es sinnlos, den Tower noch länger zu observieren. Nathanael schleuderte die Scheibe unters Bett. Es hatte keinen Zweck. Er musste alles gestehen. Er musste sich seinem Meister anvertrauen – einem Mann, den er verachtete, der ihn nie in Schutz genommen und der vor Lovelace feige gekuscht hatte. Nathanael konnte sich lebhaft vorstellen, wie Underwood seinem Zorn Luft machte – er würde seinen Gehilfen mit Hohn überschütten und gleichzeitig um seinen eigenen erbärmlichen Ruf bangen… Und danach…
Etwa eine Stunde später hörte Nathanael irgendwo unten im Haus eine Tür zuschlagen. Erschrocken lauschte er auf die gefürchteten Schritte seines Meisters auf der Treppe, doch niemand kam. Und als sich schließlich der Schlüssel im Türschloss drehte, hatte ihm das leise Schnaufen schon verraten, dass Mrs Underwood draußen stand. Sie hatte ein kleines Tablett mit einem Glas Milch und einem ziemlich aufgeweichten, mit Gurke und Tomate belegten Brot dabei.
»Entschuldige, dass ich so spät dran bin, John«, japste sie. »Dein Essen ist schon ewig fertig, aber eben als ich es dir hochbringen wollte, ist dein Meister nach Hause gekommen.« Sie holte tief Luft.
»Ich muss wieder nach unten. Es geht gerade alles ein bisschen drun
ter und drüber.«
»Was… was ist denn los, Mrs Underwood?«
»Sei ein braver Junge und iss dein Brot. Das tut dir bestimmt gut – du bist ja ganz blass. Dein Meister lässt dich bestimmt bald rufen.«
»Hat er denn irgendwas gesagt?«
»Herrje, John! Musst du einem immer Löcher in den Bauch fragen? Er hat eine Menge gesagt, aber nichts, was für deine Ohren bestimmt
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