Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
seine Lippen.
36
Das war er also: Der Mann, der das Amulett von Samarkand gestohlen hatte und damit spurlos verschwunden war. Der Mann, der dem Hüter des Amuletts die Kehle durchgeschnitten und ihn in seinem Blut liegen gelassen hatte – Lovelace’ Auftragskiller.
Für einen Menschen war er ziemlich groß, einen Kopf größer als die meisten Männer, und kräftig gebaut. Er trug eine lange, geknöpfte Jacke aus dunklem Stoff und die weite Pluderhose steckte lose in seinen hohen Lederstiefeln. Er hatte einen pechschwarzen Bart, eine breite Nase und stechende blaue Augen unter schweren Brauen. Seine Bewegungen waren ungewöhnlich geschmeidig. Einen Arm ließ er locker herunterhängen, die andere Hand hatte er in den Gürtel gehakt.
Der Meuchelmörder ging um die Kühlerhaube herum auf die Fahrerseite, wobei er uns keine Sekunde aus den Augen ließ. Als er dicht neben mir stand, wandte er kurz den Kopf und machte eine Handbewegung, woraufhin unser Ghul-Gefolge zu den Feldern zurückflog.
Ich streckte den Kopf aus dem Fenster. »Guten Morgen«, grüßte ich freundlich in möglichst überzeugendem Londoner Dialekt. »Ernest Squalls und Sohn. Wir liefern die bestellten Lebensmittel.«
Der Mann blieb stehen und musterte uns einen Augenblick schweigend.
»Squalls und Sohn…« Er sprach mit tiefer, schleppender Stimme und seine blauen Augen schienen durch mich hindurchzusehen. Er machte mich ganz nervös, auch der Junge schluckte unwillkürlich. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht durchdrehte. »Squalls und Sohn… ganz recht, Sie werden erwartet.«
»Jawoll, Chef.«
»Was haben Sie da drin?«
»Lebensmittel, Chef.«
»Nämlich?«
»Äh…« Ich hatte keinen blassen Schimmer. »Alles Mögliche, Chef. Woll’n Sie einen Blick drauf werfen?«
»Die Liste reicht mir.«
Verdammt. »Alles klar, Chef. Wir, äh, liefern Kisten und Büchsen… massenweise Büchsen, Sir… und Kartons… und Gläser…«
Er sah misstrauisch aus. »Das ist aber nicht besonders präzise.«
Neben meinem Ellbogen ertönte eine hohe Stimme. Nathanael beugte sich an mir vorbei zum Fenster. »Ich hab die Liste aufgestellt, Sir, nicht mein Vater. Wir haben russischen Kaviar dabei, Kiebitzeier, frischen Spargel, luftgetrocknete Bologneser Salami, syrische Oliven, Vanillestangen aus Mittelamerika, frische Pasta, Lerchenzungen in Aspik, marinierte Riesenschnecken in der Schale, Gläser mit frisch gemahlenem schwarzem Pfeffer und grobem Salz, fangfrische Austern, Straußenfleisch…«
Der Söldner hob die Hand. »Halt. Jetzt würde ich doch gern einen Blick darauf werfen.«
»Klar, Chef.« Böses ahnend stieg ich aus und führte ihn um den Lieferwagen herum. Ich hoffte bloß, dass die Fantasie nicht allzu sehr mit dem Jungen durchgegangen war. Was uns erwartete, wenn wir eine ganz andere Fracht beförderten, wollte ich mir lieber nicht ausmalen, aber es war sowieso zu spät. Der Söldner stand mit unbewegtem Gesicht neben mir. Ich schloss auf und öffnete die Heckklappe.
Er sah sich kurz im Laderaum um. »In Ordnung. Sie können weiterfahren.«
Ungläubig warf ich ebenfalls einen Blick hinein. Hinten in der Ecke erspähte ich eine Kiste mit Gläsern: Syrische Oliven. Dahinter halb verdeckt ein Kistchen Lerchenzungen, ganze Lagen in Tücher eingeschlagener Teigwaren… Ich schloss die Klappe wieder und ging nach vorn zum Fahrerhaus.
»Gibt’s irgendwelche Vorschriften zu beachten, Chef?«
Der Mann stützte sich auf die Unterkante des offenen Wagenfensters. Über seinen Handrücken zogen sich kreuz und quer schmale, weiße Narben. »Sie folgen immer der Zufahrt, bis sie sich gabelt, biegen nach rechts ab und fahren am Hintereingang vor. Dort wartet schon jemand. Sie liefern Ihre Ware ab und fahren wieder zurück. Ein Hinweis vorweg: Sie betreten das Privatgrundstück eines Zauberers. Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, schnüffeln Sie nirgends herum, wo Sie nichts zu suchen haben. Wenn Sie wüssten, was darauf für Strafen stehen, würde Ihnen das Blut in den Adern gefrieren.«
»Geht klar, Chef.«
Mit einem angedeuteten Nicken trat der Mann zurück und winkte uns durch. Ich gab ein wenig Gas und ließ den Wagen langsam durch den Torbogen rollen, dann passierten wir erst die eine, dann die andere Schutzkuppel. Jedes Mal kribbelte meine Substanz. Schließlich waren wir durch und fuhren die sandige, sanft geschwungene, von Bäumen gesäumte Auffahrt entlang.
Ich sah den Jungen an. Er wirkte völlig ungerührt, nur der einsame
Weitere Kostenlose Bücher