Bartimäus 03 - Die Pforte des Magiers
Straßenansicht aus der Zeit vor etwa vierzig Jahren frei. Hohe Stadthäuser, Marktbuden, blauer Himmel, weiter hinten die Nelsonsäule, darüber schaukelten an unsichtbaren Fäden künstliche Tauben mit aufgeplustertem Gefieder. Von beiden Seiten schoben Straßenhändler ihre Karren auf die Bühne. Als sie sich in der Mitte trafen, tauschten sie in waschechtem Londoner Dialekt johlend Scherze aus und schlugen sich im Takt des Gassenhauers auf die Schenkel. Mit Schrecken erkannte Nathanael, dass das erste Lied schon angefangen hatte. Er lehnte sich zurück und tröstete sich mit dem Gedanken an den Zauberspiegel in seiner Tasche. Vielleicht konnte er sich kurz nach draußen schleichen und nachsehen, wie die Dinge standen…
»Kein schlechter Einstieg, was, John?« Wie einer geheimen Falltür entstiegen, stand Mr Makepeace plötzlich neben ihm, nahm auf dem dritten Sessel Platz und trocknete sich die Stirn. »Nette kleine Nummer. Da kommt man doch gleich in Stimmung.« Er gluckste vergnügt. »Mr Devereaux ist jetzt schon hin und weg. Sehen Sie nur, wie er lacht und in die Hände klatscht!«
Nathanael spähte in die Dunkelheit. »Da haben Sie bessere Augen als ich. Ich kann ihn nicht erkennen.«
»Das liegt daran, dass Sie Ihre Linsen rausgenommen haben, Sie braver Junge. Setzen Sie sie wieder ein!«
»Aber…«
»Setzen Sie Ihre Linsen ruhig wieder ein. Hier in meiner Loge gelten andere Regeln. Ich erteile Ihnen eine Sondergenehmigung.«
»Was ist dann mit den Trugbildern?«
»Ach, Sie werden sich trotzdem amüsieren, ganz bestimmt.« Herzhaftes Lachen.
Der Kerl wusste auch nicht, was er wollte! Verstimmt und verwirrt setzte Nathanael seine Linsen wieder ein. Jetzt, da er auch die zweite und dritte Ebene erkennen konnte, hellte sich der dunkle Zuschauerraum für ihn ein wenig auf, und er konnte die Zauberer in den Logen gegenüber ausmachen. Tatsächlich reckte Devereaux den Hals, spähte gespannt auf die Bühne und nickte im Takt der Musik mit dem Kopf, die anderen Minister hatten sich in Haltungen, die verschiedene Abstufungen von Resignation bis Widerwillen ausdrückten, in das Unvermeidliche geschickt.
Die Straßenhändler sprangen in die Seitenkulissen und gaben die Bühne für den noch jungen zukünftigen Premierminister frei. Der blasse, schlanke Jüngling, dem Nathanael seinerzeit in Richmond begegnet war, kam in den Vordergrund geschlendert. Er trug eine Schuluniform mit Krawatte und kurzer Hose, die seine behaarten Waden peinlich entblößte. Auf die Wangen hatte man ihm eine dicke Schicht Rouge geklatscht, die ihm das Aussehen eines munteren Schuljungen verleihen sollte, aber er bewegte sich sonderbar apathisch. Neben einem Briefkasten aus Pappe blieb er stehen und setzte mit zittriger Stimme zu einem Monolog an. Mr Makepeace schnalzte tadelnd mit der Zunge.
»Bobby hat uns schon die ganze Zeit Kummer gemacht«, raunte er. »Bei den Proben hat er jämmerlich gehustet und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ich glaube, er ist schwindsüchtig. Ich musste ihm einen tüchtigen Schnaps einflößen, damit er überhaupt auftreten konnte.«
Nathanael nickte. »Glauben Sie, er ist kräftig genug, um den Abend durchzustehen?«
»Das hoffe ich. Das Stück ist nicht besonders lang. Aber wie gefällt es denn unserer Miss Jones?«
Im Schutz des Zwielichts schielte Nathanael zu dem Mädchen hinüber. Er erkannte ihr ebenmäßiges Profil, ihr glänzendes Haar und ihre bodenlos gelangweilte Miene und musste unwillkürlich grinsen. Er…
Sein Grinsen gefror zur Grimasse und erlosch. Nach kurzer Überlegung wandte er sich an Makepeace: »Sagen Sie mal, Quentin, woher wissen Sie eigentlich, dass die Dame Miss Jones heißt?«
Die Antwort kam im Flüsterton: »Ich weiß so manches, mein Junge. Aber pst! Still jetzt! Gleich kommt der Höhepunkt des ganzen Stücks!«
»Jetzt schon?«, wunderte sich Nathanael. »Das ist ja erfr…, äh, ungewöhnlich früh.«
»Wegen Bobbys Unpässlichkeit musste ich die Handlung ein bisschen zusammenstreichen. Sonst wäre ihm die Puste ausgegangen und er hätte seinen großen Monolog nicht geschafft. Aber still jetzt. Haben Sie Ihre Linsen drin? Dann sehen Sie gut hin.«
Nathanael wandte sich wieder der Bühne zu, konnte jedoch nichts Aufregendes entdecken. Das Orchester hatte wieder eingesetzt. Der Jüngling lehnte an dem Pappbriefkasten und versuchte sich näselnd an einem Solo, das regelmäßig von bellendem Husten unterbrochen wurde. Außer ihm war niemand mehr auf der
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