Bastard
Patienten heute Morgen waren ziemlich anspruchslos und haben mir nicht viel abverlangt, als ich mich mit ihnen befasste: das Opfer eines Verkehrsunfalls. Ich konnte den Alkohol noch riechen, und die Blase des Mannes war voll, als hätte er bis zu dem Moment getrunken, in dem er die Kneipe verließ, sich im Schneesturm ans Steuer setzte und gegen einen Baum geschleudert wurde. Eine Schießerei in einem heruntergekommenen Motel; Einstichspuren und Gefängnistätowierungen wiesen wieder einmal auf einen Menschen hin, der so gestorben ist, wie er gelebt hat. Und ein Erstickungstod, herbeigeführt mit einer Plastiktüte aus der Reinigung. Das alte rote Satinband, mit dem die Tüte um den Hals der alten Witwe zusammengeschnürt war, stammte vermutlich von einem Weihnachtsfest in besseren Zeiten. Ihr Magen war voll aufgelöster weißer Tabletten, und neben dem Bett stand ein leeres Döschen, das Benzodiazepin enthalten hat, verschrieben gegen Schlaflosigkeit und Angstzustände.
Auf Festnetzanschluss und Mobiltelefon hatte niemand eine Nachricht hinterlassen, und es war auch keine Mail eingegangen, die mich in diesem Moment und unter den gegebenen Umständen interessiert hätte. Als ich einen Blick in Lucys Büro warf, war niemand da, und sogar Ron vom Sicherheitsdienst war gegangen. Er wurde von einem Wachmann abgelöst, den ich nicht kenne. Er ist hager, hat abstehende Ohren wie Ichabod Crane, der Schulmeister aus Washington Irvings The Legend of Sleepy Hollow , und heißt Phil. Er sagte, Lucys
Auto befinde sich nicht auf dem Parkplatz. Seine Anweisung laute, weder durchs Untergeschoss noch durch die Vorhalle jemanden ins Gebäude zu lassen, ohne es vorher mit mir abzuklären. Das sei nicht möglich, habe ich Phil geantwortet. Jeden Moment würden die ersten Mitarbeiter eintreffen, und ich könne schließlich keinen Pförtnerdienst versehen. Er solle jedem Zutritt gewähren, der berechtigt sei, sich hier aufzuhalten, habe ich ihm mitgeteilt, bevor ich nach oben ging. Mit Ausnahme von Dr. Fielding. Als ich das hinzufügte, wurde mir klar, dass das überflüssig war. Offenbar war der Wachmann namens Phil darüber im Bilde, dass Fielding nicht einfach hier hereinspazieren darf, es nicht tun wird und es vielleicht auch gar nicht mehr kann. Außerdem hat das FBI meinen Parkplatz mit Beschlag belegt. Auf dem Videoschirm auf meinem Schreibtisch kann ich die Geländewagen der Agenten so deutlich sehen wie den klaren, kalten Tag.
Ich drehe den Stuhl herum zu der Theke aus poliertem schwarzen Granit hinter mir, wo meine Mikroskope mit Zubehör stehen. Nachdem ich ein Paar Untersuchungshandschuhe angezogen habe, schlitze ich einen der weißen Umschläge auf, die ich, kurz bevor ich nach oben kam, mit weißem Papierband zugeklebt hatt5e. Ich hole einen Bogen Löschpapier heraus. Er weist einen dicken Schmierer getrocknetes Blut auf, das aus der Umgebung der linken Niere stammt, wo ich auf dem MRI-Bild eine dichte Ansammlung von metallischen Fremdkörpern bemerkt habe. Ich schalte die Beleuchtung meines Materialmikroskops von Leica ein, das mir schon seit Jahren treue Dienste leistet, und lege das Papier vorsichtig auf den Objekttisch. Dann justiere ich die Objektive in einem Winkel, bei dem ich mir nicht Hals und Schultern verrenke, und bemerke sofort, dass das Gerät von jemandem benutzt worden ist, der viel größer als ich und Rechtshänder ist. Außerdem vermute ich, dass dieser Mensch Kaffee mit Sahne
trinkt und Spearmintkaugummi kaut. Auch die Schärfe der Linse und der Augenabstand wurden geändert.
Ich stelle Linkshänderbedienung ein und passe die Höhe an meine Größe an. Anschließend beginne ich mit einer Vergrößerung von fünfzig und betätige mit einer Hand den Schärfenregler, während ich mit der anderen den Löschpapierbogen hin und her bewege und den Blutschmierer von allen Seiten betrachte, bis ich das Gesuchte gefunden habe: helle, weißsilbrige Flocken, zusammen mit anderen Partikeln, die so winzig sind, dass ich auch bei einer Vergrößerung von hundert keine Einzelheiten ausmachen kann. Ich erkenne nur raue Ecken, Kratzer und Kerben auf den größten der Teilchen. Sie sehen aus wie nicht verbrannte Metallsplitter und Späne, die durch Bearbeitung mit einer Maschine oder einem Werkzeug entstanden sind. Es ist nichts vorhanden, was mich an die Rückstände eines Geschosses erinnern würde. Die Partikel ähneln nicht im Entferntesten den Flocken, Scheiben oder Kügelchen, die ich von Schießpulver her kenne.
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