Bastard
vor neun ist, sind die meisten meiner Mitarbeiter inzwischen eingetroffen. Das heißt diejenigen, die den Schnee nicht als Ausrede benutzen, um zu Hause zu bleiben oder sich auf angenehmere Weise die Zeit zu vertreiben. Mit Skilaufen in Vermont zum Beispiel. Auf dem Überwachungsmonitor beobachte ich, wie Autos auf den Parkplatz einbiegen. Einige Leute betreten das Gebäude durch die Hintertür, doch der Großteil wählt den offiziellen Weg durch die mit Stein gepflasterte Vorhalle im Erdgeschoss mit ihren beeindruckenden Reliefs und Flaggen und meidet das triste Reich der Toten in der unteren Etage. Als Wissenschaftler begegnet man nur selten den Patienten, deren Körperflüssigkeiten, persönliche Habe und andere Hinterlassenschaften man untersucht. Ich höre, wie Bryce, mein Sekretär, im Flur die Tür seines Büros öffnet, das an meines angrenzt.
Ich verstaue das Löschpapier in einem frischen Umschlag und schließe eine Schublade auf, um weitere Gegenstände herauszuholen, die ich dort aufbewahrt habe. Dabei gebe ich mir Mühe, nicht in einem schwarzen Loch zu versinken und mir düstere Gedanken über die Dinge zu machen, die ich gerade auf der Website gesehen habe. Sie sagen viel über den Menschen und seine Fähigkeit aus, sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen, um andere Lebewesen zu schädigen. Im Namen des Überlebenskampfs, schießt es mir durch den Kopf, obwohl es meistens gerade nicht ums eigene Überleben geht, sondern um das Machtgefühl, das man empfindet, wenn man jemanden überwältigen, verstümmeln und töten kann. Wie schrecklich. Eine grauenhafte Vorstellung. Inzwischen steht für mich zweifelsfrei fest, was dem Mann in Norton’s Woods zugestoßen ist. Jemand hat sich von hinten an ihn herangeschlichen und ihm eine komprimierte Gasblase in lebenswichtige Organe geschossen. Falls es sich um CO 2 gehandelt hat, kann man das mit keinem Test nachweisen. Kohlendioxid kommt überall vor und ist buchstäblich so allgegenwärtig wie die Luft, die wir ausatmen. Ich erinnere mich an die Bilder aus dem CT, die dunklen Lufteinschlüsse in der Brust, und male mir aus, wie sich das angefühlt haben muss. Wie werde ich die Frage beantworten, die man mir immer stellt?
Hat er leiden müssen?
Obwohl die Wahrheit lautet, dass dies nur der Verstorbene selbst beurteilen kann, würde ich nein sagen. Er hat nicht gelitten. Allerdings hat er etwas gespürt, nämlich, dass sich eine Katastrophe anbahnte. Er war nicht lange genug bei Besinnung, um die schrecklichen letzten Momente seines Lebens bewusst wahrzunehmen. Doch er hat einen Stoß unten am Rücken und gleichzeitig einen gewaltigen Druck in der Brust wahrgenommen, als seine Organe zerplatzten. Danach
nichts mehr, höchstens die blitzartige panische Erkenntnis, dass er gleich sterben würde. Ich zwinge mich, nicht mehr daran zu denken. Denn wenn ich weiter darüber nachgrüble und meiner Phantasie freien Lauf lasse, entwickle ich nur sinnlose und sich im Kreis drehende Theorien, die niemanden weiterbringen. Ich helfe ihm nicht, indem ich mich hineinsteigere.
Wenn ich meine Gefühle nicht im Griff habe, nütze ich damit niemandem. Es ist wie damals, als ich meinen Vater pflegen musste und die hohe Kunst erlernte, Emotionen zurückzudrängen, die in mir hochstiegen wie Lebewesen, die sich verzweifelt zu befreien versuchten. »Es macht mir Sorgen, was du inzwischen alles weißt, meine kleine Katie«, sagte mein Vater zu mir. Ich war zwölf, und er, zum Skelett abgemagert, lag im hinteren Schlafzimmer, wo es immer zu warm war und nach Krankheit roch und das Licht fahl durch die Schlitze der während seiner letzten Monate meist geschlossenen Fensterläden hereinströmte. »Du hast Dinge gelernt, die du niemals hättest wissen dürfen, insbesondere nicht in deinem Alter, meine kleine Katie«, meinte er zu mir, als ich das Bett machte, während er noch darin lag. Inzwischen hatte ich Erfahrung darin, ihn gründlich zu waschen, damit er sich nicht wund lag, und seine beschmutzten Laken zu wechseln, indem ich seinen Körper hin und her schob – seinen Körper, der ausgehöhlt und bis auf das Glühen des Fiebers tot wirkte.
Dazu drehte ich meinen Vater sanft auf die Seite, stützte ihn erst rechts, dann links nach oben und lehnte ihn an mich, weil er sich am Ende nicht mehr aufsetzen, geschweige denn aufstehen konnte. In jener Zeit, die der Arzt als Endstadium einer chronischen, von einer Entzündung des Knochenmarks verursachten Leukämie bezeichnete,
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