Bastard
Widerstandsfähigkeit oder das Versagen von Panzerungen, Infektionen, Krankheiten, Wundstellen, ob nun ausgelöst von Parasiten, Sandflöhen oder extremer Hitze, Flüssigkeitsmangel, Langeweile, Depressionen, Drogenmissbrauch – all das ist für die nationale Verteidigung und Sicherheit von Bedeutung. Die Daten, die ich sammle, sind nicht nur für die Familien bestimmt und kommen für gewöhnlich auch nicht in Gerichtsverfahren zum Tragen, haben jedoch Einfluss auf Kriegsstrategien und den Schutz unseres Landes. Man erwartet von mir, dass ich Fragen stelle, Spuren verfolge, meine Ergebnisse an den Gesundheitsminister und das Verteidigungsministerium weitergebe und ausgesprochen bemüht und engagiert bin.
Du bist jetzt wieder zu Hause. Und du möchtest nicht wie ein Colonel oder ein Kommandant und ganz sicher nicht wie eine Primadonna auftreten. Schließlich möchtest du nicht, dass ein Fall für nichtig erklärt oder eine Klage abgewiesen wird. Du willst keinen Ärger. Davon hast du bereits mehr als genug. Weshalb also weitere Schwierigkeiten heraufbeschwören? Briggs will dich loswerden. Pass auf, dass du ihm keine Munition lieferst. Deine eigenen Mitarbeiter lehnen dich ab oder nehmen dich nicht einmal zur Kenntnis. Gib ihnen nichts in die
Hand. Der einzige Grund, der einen Anruf bei Erica Donahue rechtfertigt, ist die höfliche Bitte, sich nicht mehr mit dir oder deinem Büro in Verbindung zu setzen, und zwar zu ihrem eigenen Besten und ihrem eigenen Schutz. Ich beschließe, genau diese Worte zu wählen, und glaube beinahe meine eigene Begründung, als ich die Privatnummer wähle, die am Ende des Briefes steht.
17
Die Person, die sich meldet, versteht mich offenbar nicht richtig. Ich muss mich zweimal wiederholen und erklären, dass ich Dr. Kay Scarpetta bin, wegen eines Briefes von Erica Donahue anrufe und sie bitte sprechen möchte.
»Verzeihung?«, erwidert eine wohlklingende Stimme. »Wer ist da?« Eine Frauenstimme, da bin ich ziemlich sicher, obwohl sie recht dunkel ist. Beinahe im Tenorbereich, es könnte also auch ein junger Mann sein. Im Hintergrund erklingt ein Klaviersolo.
»Spreche ich mit Mrs. Donahue?« Ich bekomme bereits ein mulmiges Gefühl.
»Wer sind Sie, und warum rufen Sie an?« Die Stimme wird hart; die Aussprache ist überdeutlich akzentuiert.
Während ich mein Anliegen erneut wiederhole, erkenne ich eine Etüde von Chopin und erinnere mich an ein Konzert in der Carnegie Hall. Michail Pletnjow, der dieses sehr schwer zu spielende Stück mit einer beeindruckenden Technik beherrschte. Es ist Musik für einen detailverliebten und gründlichen Menschen, bei dem alles seinen Platz haben muss. Einen Menschen, der keine Flüchtigkeitsfehler macht. Einen Menschen, der niemals einen teuren Umschlag mit Prägedruck verunstalten würde, indem er Isolierband daraufklatscht. Einen Menschen, der nicht zur Impulsivität neigt und sich alles eingehend überlegt.
»Tja, ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, verkündet die Stimme, die, wie ich inzwischen glaube, die von Mrs. Donahue ist. Sie klingt versteinert und voller Misstrauen und Schmerz. »Außerdem weiß ich nicht, woher Sie diese Nummer haben, da sie nicht im Telefonbuch steht. Wenn es sich
bei diesem Anruf also um einen Scherz handelt, finde ich das absolut empörend, und Sie, wer immer Sie auch sein mögen, sollten sich schämen …«
»Ich versichere Ihnen, es ist kein Scherz«, unterbreche ich sie, bevor sie auflegen kann. Ich stelle mir vor, wie sie sich Chopin, Beethoven und Schumann anhört, von Sorgen zermürbt, und sich den Kopf über einen Sohn zerbricht, der ihr vermutlich seit seiner Geburt das Leben schwergemacht hat. »Ich bin die Leiterin des Cambridge Forensic Center, Chief Medical Examiner des Staates Massachusetts«, erkläre ich in demselben bestimmten, aber ruhigen Ton, den ich auch bei Familienangehörigen anschlage, die kurz vor einem emotionalen Ausbruch stehen. So als wäre sie Julia Gabriel und würde mich jeden Moment anschreien. »Ich war verreist, und als ich gestern Abend am Flughafen ankam, wurde ich von Ihrem Fahrer mit Ihrem Brief erwartet. Ich habe ihn sorgfältig gelesen.«
»Das ist völlig unmöglich. Ich beschäftige keinen Fahrer und habe Ihnen auch nicht geschrieben. Ich habe an niemanden in Ihrem Institut geschrieben und keine Ahnung, wovon Sie reden. Wer sind Sie? Wer sind Sie wirklich, und was wollen Sie?«
»Ich habe den Brief hier vor mir liegen, Mrs. Donahue.«
Ich betrachte den Brief auf
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