Bastard
ihren Namen oder ihre Initialen auf die Lasche schreiben. Was wollte Erica Donahue vermeiden? Dass der Fahrer lesen könnte, was sie an eine ihm offenbar völlig unbekannte Person namens Scarpetta geschrieben hat?
Mit der in einem Baumwollhandschuh steckenden Hand streiche ich die Seiten glatt und versuche zu deuten, was die Mutter eines College-Studenten, der einen Mord gestanden hat, den Tasten ihrer Schreibmaschine anvertrauen wollte, so als wären ihre Gefühle und ihre Überzeugung beim Verfassen dieses Bittschreibens eine Chemikalie, die ich aufnehmen kann, um mich in ihr Denken hineinzuversetzen. Ich überlege, ob ich diesen Vergleich wegen der in Fieldings Kitteltasche
gefundenen Plastikfolie ziehe. Nun, einige Stunden nach diesem beunruhigenden Drogenerlebnis ist mir klar, wie schwerwiegend die Auswirkungen waren. Gewiss habe ich mich Benton gegenüber merkwürdig verhalten und ihn damit in eine wirklich unangenehme Lage gebracht. Vielleicht tut er ja deshalb so geheimnisvoll und hält mir Vorträge darüber, ich solle zufällig in der Nähe herumstehenden Personen keine Informationen preisgeben. Als ob ausgerechnet ich das nicht am besten wüsste. Möglicherweise traut er meinem Urteilsvermögen nicht mehr und glaubt, ich hätte mich nicht im Griff oder mich durch die Gräuel des Krieges verändert. Ob er befürchtet, die Frau, die aus Dover zu ihm zurückgekehrt ist, könnte nicht mehr die sein, die er kennt?
Ich bin nicht mehr die, die du früher kanntest , schießt es mir durch den Kopf. Ich bin nicht sicher, ob du mich überhaupt je gekannt hast , raunt es in meinen Gedanken. Als ich die ordentlich in einzeiligem Abstand betippten Bogen lese, fällt mir auf, dass sich auf zwei Seiten nicht ein einziger Fehler findet. Ich entdecke weder Spuren von Tipp-Ex oder einem Korrekturband noch Rechtschreib- oder Grammatikfehler. Wenn ich mich an meine letzte Schreibmaschine erinnere, eine IBM Selectric, die ich in meinen ersten Jahren in Richmond benutzt habe, fällt mir nur der ständige Ärger mit abgerissenen Farbbändern ein. Um den Schrifttyp zu ändern, musste man den Kugelkopf wechseln. Verschmutzte Typen hinterließen Schmierer auf dem Papier. Und nicht zu vergessen meine eigenen eiligen Finger, die immer wieder die falschen Tasten berührten. Was Rechtschreibung und Grammatik angeht, bin ich zwar gut, aber sicherlich nicht unfehlbar.
Wie pflegte meine Sekretärin Rose zu sagen, wenn sie mit dem jüngsten Ergebnis meiner Versuche, auf dieser verdammten Maschine ein Schreiben zu verfassen, hereinkam? »Und auf welcher Seite steht das im Webster’s? Vielleicht ist es ja auch
im MLA-Stilwörterbuch, und ich kann es bloß nicht finden. Ich tippe es besser noch mal für Sie ab.« Ich darf diesen Gedanken nicht weiterdenken, weil er mich traurig macht. Seit Rose tot ist, vermisse ich sie jeden Tag. Wenn sie jetzt hier wäre, wäre alles anders. Zumindest würden sich die Dinge anders anfühlen. Sie verkörperte für mich Klarheit. Für sie war ich ihr Leben. Ein Mensch wie Rose sollte sich nicht von dieser Erde verabschieden müssen, und ich kann es noch immer nicht fassen. Allerdings ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, über den blonden jungen Mann mit den schwarzen Basketballstiefeln nachzugrübeln, der nun an ihrer Stelle im Nebenzimmer sitzt. Ich muss mich konzentrieren. Und zwar auf Erica Donahue. Was soll ich mit dieser Frau anfangen? Irgendetwas muss ich tun, aber ich muss schlau zu Werke gehen.
Offenbar hat sie den Brief mehrmals getippt, so oft, bis er absolut fehlerfrei war. Mir fällt ein, dass der Chauffeur, der da in dem Bentley vorfuhr, anscheinend nicht wusste, dass der Empfänger des mit Isolierband zugeklebten Briefes in Wirklichkeit eine Frau war. Er schien wirklich zu denken, der Mann mit dem silbergrauen Haar sei ich. Ich halte mir vor Augen, dass Johnny Donahues Mutter vermutlich auch nicht ahnt, dass der forensische Psychologe, der ihren Sohn begutachtet, also ebendieser Mann mit dem silbergrauen Haar, mein Ehemann ist. Außerdem gibt es im McLean, anders als in dem Brief steht, keine Abteilung für »psychisch kranke Straftäter«. Hinzu kommt, dass niemand Johnny zum psychisch kranken Straftäter erklärt hat, was ein juristischer Begriff und keine Diagnose ist. Laut Benton hat sie auch einige andere Tatsachen verwechselt.
Sie hat Dinge durcheinandergebracht, die ihrem Sohn ziemlich schaden könnten und vielleicht sogar sein vermutlich wasserdichtes Alibi untergraben. Ihre
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