Bastard
Himmel. Dann der Saum des langen schwarzen Mantels, der eine Sekunde lang auf dem Bildschirm zu sehen ist. Wer würde einfach um einen Mann in Not herumgehen, als ob er ein lebloser Gegenstand wie ein Fels oder ein Baumstamm wäre? Was ist das für ein Mensch, der einen Mann, der sich an die Brust greift und zusammenbricht, kaltblütig ignoriert? Der Täter vielleicht. Oder eine Person, die sich aus irgendeinem Grund nicht einmischen will. So wie Zeugen eines Unfalls oder einer Gewalttat, die sich blitzschnell aus
dem Staub machen, um nicht in die Ermittlungen hineingezogen zu werden. Mann oder Frau? Habe ich Schuhe gesehen? Nein, nur den flatternden Saum des Mantels. Darauf folgte ein Klappern, und andere kahle Äste, betrachtet durch die Unterseite einer grünen Bank, kamen in Sicht. Hat die Person im langen schwarzen Mantel den Kopfhörer mit dem Fuß unter die Bank gestoßen, damit die Kamera nicht aufnehmen konnte, was dann geschah?
Ich muss mir die Videoaufzeichnung gründlicher anschauen, aber das ist jetzt nicht möglich. Das iPad liegt im Gepäckraum, und außerdem fehlt die Zeit dafür. Der Rotor durchschneidet die Luft, und der Generator läuft. Lucy und ich setzen unsere Kopfhörer auf. Sie betätigt einige Hebel über ihrem Platz: Avioniksteuerung und Navigationsinstrumente. Ich stelle die Gegensprechanlage auf Besatzung, damit Marino nichts hört, während Lucy mit dem Fluglotsen spricht. Die Scheinwerfer und die Landungslichter spiegeln sich auf dem Asphalt und verfärben ihn weiß, als wir auf die Starterlaubnis des Towers warten. Ich tippe Zieldaten ins GPS, das bewegliche Display mit der Karte und ins Chelton Flight System ein, korrigiere die Höhenmesser, vergewissere mich, dass die digitale Treibstoffanzeige mit der Tankuhr übereinstimmt, und erledige die meisten Handgriffe mindestens zweimal, weil Lucy eine unbedingte Anhängerin von Wiederholungen ist.
Der Tower gibt uns frei. Wir schweben in niedriger Höhe zur Startbahn, steigen mit Kurs auf Nordosten und überqueren auf tausend Fuß den Delaware River. Das vom Wind aufgepeitschte dunkle Wasser sieht aus wie zähflüssiges, geschmolzenes Metall. Kleinen Feuern gleich, funkeln die Lichter der Häuser durch die Bäume.
4
Weil die Sicht in Küstennähe schlechter wird, ändern wir den Kurs in Richtung Philadelphia. Ich stelle die Gegensprechanlage wieder um, damit wir uns nach Marinos Befinden erkundigen können.
»Ist hinten bei dir alles in Ordnung?« Inzwischen habe ich mich ein wenig beruhigt und bin zu sehr mit dem langen schwarzen Mantel und dem erschrockenen Ausruf des Mannes beschäftigt, um Marino böse zu sein.
»Über New Jersey wäre es schneller«, verkündet seine Stimme. Er weiß, wo wir sind, denn der Bildschirm in der Passagierkabine zeigt eine Karte.
»Nebel, Eisregen und nahezu keine Sicht in Atlantic City. Und schneller ist es auch nicht«, entgegnet Lucy. »Wir werden die meiste Zeit auf ›Besatzung‹ schalten, damit ich mich mit der Flugwegverfolgung befassen kann.«
Marino wird wieder aus dem Gespräch ausgeschlossen, während wir uns von einem Tower zum nächsten lotsen lassen. Der Kartenausschnitt von Washington liegt aufgeschlagen auf meinem Schoß. Ich gebe ein neues GPS-Ziel ein, und zwar Oxford, Connecticut, für den Fall, dass wir auftanken müssen. Als wir die Wetterverhältnisse auf dem Radar beobachten, sehen wir, dass sich dichte grüne und gelbe Felder vom Atlantik her nähern. Lucy sagt, dass wir den Unwettern davonfliegen oder ihnen ausweichen können, solange wir uns im Landesinneren halten, der Wind uns gewogen ist und wir die Fluggeschwindigkeit erhöhen, die bereits beachtliche einhundertfünfzig Knoten beträgt.
»Wie fühlst du dich?« Ich halte weiter nach Mobilfunktürmen und anderen Flugzeugen Ausschau.
»Wenn wir erst einmal da sind, wird es mir bessergehen. Aber ich bin sicher, dass wir es schaffen, schneller zu sein als dieser Schlamassel.« Sie deutet auf den Bildschirm des Wetterradars. »Doch sobald ich auch nur die Spur eines Zweifels kriege, landen wir.«
Sie hätte mich nie abgeholt, wenn sie davon ausgegangen wäre, dass wir die Nacht auf irgendeinem Feld verbringen müssen. Also mache ich mir keine Sorgen. Vielleicht bin ich ja auch zu erschöpft, um mir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen.
»Das war eher eine allgemeine Frage. Wie fühlst du dich?«, spreche ich in das Mikrofon, das meine Lippen berührt. »Ich habe in den letzten Wochen oft an dich gedacht«,
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