Bastard
Menschen, der den Toten ausspioniert hat. Ich denke an den vorbeirauschenden Saum des schwarzen Mantels und spule in Etappen weiter vor. Dabei nehme ich eine Einstellung nach der anderen unter die Lupe und spitze die Ohren. Doch bis 16 Uhr 37 bleibt es still. Plötzlich fangen Bäume und Himmel an, wild zu schwanken, große, nackte Hände füllen den Bildschirm, und Papier knistert, als der Kopfhörer in einer braunen Tüte verstaut wird. »… auf jeden Fall die Colts«, verkündet eine Stimme. »Die Saints können einpacken. Sie haben …« Dann wird es dunkel. Die Stimmen werden leiser. Schließlich Schweigen.
Ich entdecke die Fernbedienung auf der Armlehne eines der Sofas im Terminal, schalte auf CNN, sehe mir die Nachrichten an und lese das am unteren Bildschirmrand mitlaufende Schriftband. Marino kommt aus der Toilette und tut, als bemerke er mich nicht. Entweder schmollt er, oder er bereut seinen Fehler und ist verlegen. Ich will ihm nicht verzeihen, dass er Briggs das Video gemailt und dass er überhaupt mit ihm gesprochen hat. Wenn ich Marino ausnahmsweise einmal nicht verzeihe, lernt er vielleicht endlich etwas daraus. Allerdings ist mein Problem, dass es mir nie gelingt, ihm oder anderen Menschen, die mir etwas bedeuten, ernsthaft böse zu sein. Katholische Schuldgefühle. Keine Ahnung, woran es liegt, aber ich werde schon wieder weich, und meine
Entschlossenheit schwindet. Ich kann es förmlich spüren, während ich, auf der Suche nach Nachrichten, die sich womöglich schädlich auf das CFC auswirken, durch die Sender schalte. Marino geht zu Lucy hinüber und kehrt mir den Rücken zu.
Ich wende mich vom Fernseher ab. Für den Moment bin ich überzeugt, dass die Medien nichts von der Leiche ahnen, die mich in meinem Autopsiesaal in Cambridge erwartet. Eine Sensation wie diese würde sicher Schlagzeilen machen, sage ich mir. Mein iPhone würde heißlaufen. Briggs hätte bestimmt schon davon gehört und sich dazu geäußert. Selbst Fielding hätte mich darauf aufmerksam gemacht. Nur dass Fielding sich noch immer nicht bei mir gemeldet hat. Wieder versuche ich ihn anzurufen. Er geht nicht ans Mobiltelefon und ist auch nicht im Büro. Natürlich nicht. So lange arbeitet er nämlich nie. Also wähle ich seine Privatnummer in Concord und erreiche wieder nur den Anrufbeantworter.
»Jack? Ich bin es, Kay.« Ich hinterlasse ihm noch einmal eine Nachricht. »Wir starten gleich in Dover. Könntest du mir eine SMS oder E-Mail mit den neuesten Erkenntnissen schicken? Wie ich annehme, hat Ermittler Law nicht zurückgerufen. Wir warten noch immer auf die Fotos. Hast du Informationen über einen vermissten Hund, einen Greyhound? Er gehörte dem Opfer, heißt Sock und wurde zuletzt in Norton’s Woods gesehen.« Meine Stimme klingt angespannt. Fielding geht mir aus dem Weg, und das nicht zum ersten Mal. Er ist ein Meister darin, spurlos zu verschwinden, was nicht weiter verwundert, denn schließlich hat er es schon oft genug getan. »Gut, dann versuche ich es nach der Landung wieder. Wahrscheinlich erwartest du uns im Büro so gegen halb zehn oder zehn. Ich habe Anne und Ollie Nachrichten geschickt. Könntest du dich vielleicht darum kümmern, dass sie auch da sind? Wir müssen das noch heute Nacht erledigen. Wärst du außerdem
so gut, dich bei der Polizei von Cambridge nach dem Hund zu erkundigen? Sicher hat er einen Mikrochip …«
Es klingt albern, dass ich mich in das Thema Sock verbeiße. Was zum Teufel soll Fielding über den Hund wissen? Er hat sich ja nicht einmal die Mühe gemacht, persönlich zum Tatort zu fahren. Und Marino hat recht: Jemand hätte es tun sollen.
Lucys Bell 407 ist schwarz und hat getönte Heckscheiben. Während sie Türen und Gepäckraum aufschließt, peitscht ein Wind gegen die Rampe.
Ein Windsack zeigt steif nach Norden, wie ein waagerechter Verkehrskegel, was ein gutes und ein schlechtes Zeichen ist. Wir werden den Wind im Rücken haben, allerdings auch eine Schlechtwetterfront mit schweren Regenfällen, Schneeregen und Schnee. Marino fängt an, meine Sachen zu verstauen, während Lucy den Helikopter umrundet und Antennen, statische Stabilität, Rotoren, Notfloße, die Stickstoffflaschen, um sie aufzublasen, den Leitwerksträger aus Aluminiumlegierung, Getriebegehäuse, Hydraulikpumpe und Hydraulikbehälter überprüft.
»Wenn ihn jemand ausspioniert, ihn heimlich gefilmt und dann bemerkt hat, dass er tot ist, hat diese Person etwas mit der Sache zu tun«, sage ich unvermittelt zu
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