Bastard
für sich selbst eingestuft hat. Er hatte niemandem Schaden zugefügt und auch keine derartigen Absichten geäußert. Dann, aus heiterem Himmel, gestand er plötzlich ein so grausames und entsetzliches Verbrechen und wurde daraufhin sofort in die geschlossene Abteilung für geisteskranke Straftäter verlegt. Jetzt frage ich Sie,
wie es möglich ist, dass die Behörden seinen albernen und wirren Geschichten so schnell Glauben schenken konnten.
Ich muss mit Ihnen sprechen, Dr. Scarpetta. Ich weiß, dass Ihr Institut die Obduktion des kleinen Jungen, der in Salem starb, durchgeführt hat, und halte es für vernünftig, eine zweite Meinung einzuholen. Sicher ist Ihnen bekannt, dass es sich bei dem Mord laut Dr. Fieldings Untersuchungsergebnissen um eine vorsätzliche, sorgfältig geplante und kaltblütige Hinrichtung, den Initiationsritus einer satanistischen Sekte, handelte. Eine derartige Gräueltat passt überhaupt nicht zu dem üblichen Umgang meines Sohnes mit anderen Menschen. Außerdem hatte er noch nie Kontakt mit irgendwie gearteten Sekten. Es ist eine empörende Unterstellung, dass seine Schwäche für Bücher und Filme, die Horror, das Übernatürliche oder Gewalt zum Thema haben, ihn dazu verleitet haben könnten, diese Neigung »auszuleben«.
Johnny leidet am Asperger-Syndrom. Er ist in manchen Bereichen außergewöhnlich begabt, in anderen hingegen völlig überfordert. Er hat sehr starre Gewohnheiten und Verhaltensmuster, von denen er niemals abweicht. Am 30. Januar war er wie jeden Samstagvormittag zwischen zehn und eins mit der Person, die ihm am nächsten steht, einer ausgesprochen intelligenten Doktorandin namens Dawn Kincaid, im Bisquit beim Brunch. Deshalb hat er am frühen Nachmittag, als der arme kleine Junge getötet wurde, unmöglich in Salem sein können.
Johnny verfügt über die bemerkenswerte Fähigkeit, sich auch die unwichtigste Kleinigkeit merken und sie nachplappern zu können. Deshalb steht für mich fest, dass seine Aussage gegenüber den Behörden direkt mit dem zusammenhängt, was man ihm über den Fall erzählt hat und was in den Nachrichten berichtet wurde. Anscheinend hält er sich (aus für mich unerfindlichen Gründen) wirklich für schuldig und
behauptet sogar, eine »Stichwunde« an seiner linken Hand rühre daher, dass die Nagelpistole losgegangen sei, als er den kleinen Jungen damit beschossen habe. Natürlich ist das frei erfunden. Er hat sich die Verletzung selbst zugefügt, und zwar mit einem Steakmesser, einer der vielen Gründe, warum wir ihn überhaupt ins McLean gebracht haben. Offenbar ist mein Sohn fest entschlossen, sich für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, schwer bestrafen zu lassen, und wie es aussieht, wird sein Wunsch in Erfüllung gehen.
Nachfolgend finden Sie die Nummern, unter denen Sie mich erreichen können. Ich hoffe, dass Sie Verständnis für meine Lage haben und sich baldmöglichst mit mir in Verbindung setzen werden.
Mit freundlichen Grüßen
Erica Donahue
6
Ich stecke die dicken, steifen Briefbogen zurück in den Umschlag, wickle diesen dann zum Schutz in Servietten aus dem Handschuhfach und verstaue ihn so sicher wie möglich im Innern meiner Handtasche. Wenn ich etwas gelernt habe, dann das, dass es kein Zurück gibt. Ist ein Beweisstück erst einmal zerstört, verunreinigt oder verloren, steht man vor der gleichen Situation wie ein Archäologe, der mit seiner Schaufel ein wertvolles altes Stück zerschmettert hat.
»Offenbar weiß sie nicht, dass wir beide verheiratet sind«, stelle ich fest. Am Straßenrand biegen sich die Bäume im Wind, und weiße Schneeflocken tanzen.
»Mag sein«, erwidert Benton.
»Weiß es ihr Sohn?«
»Ich erörtere mein Privatleben für gewöhnlich nicht mit meinen Patienten.«
»Dann ist sie vermutlich nicht besonders gut über mich informiert.«
Ich überlege, ob Erica Donahue ihrem Fahrer womöglich nicht gesagt hat, dass er den Brief einer zierlichen blonden Frau, nicht einem hochgewachsenen Mann mit silbergrauem Haar aushändigen soll.
»Sie hat eine Schreibmaschine benutzt, vorausgesetzt, sie hat den Brief selbst getippt«, fahre ich in meinen Mutmaßungen fort. »Und wer sich die Mühe macht, einen Umschlag zuzukleben, damit der Inhalt auch sicher vertraulich bleibt, würde niemand anders mit dem Tippen des Briefes beauftragen. Wenn sie noch immer eine Schreibmaschine verwendet, geht sie vermutlich nicht ins Internet und googelt nicht. Das geprägte Briefpapier mit Wasserzeichen, der
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