Bastard
»Verteidigungsdebatte« zum Besten gibt? Ich überfliege die nicht sehr überraschenden Anmerkungen des konservativen Parlamentsmitglieds, es sei keine Selbstverständlichkeit, dass Großbritannien immer als Teil des Bündnisses agieren werde, da die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges katastrophal seien. Wiederholt spielt Brown auf die gezielt verbreiteten Falschinformationen an – so deutlich ein angesehenes Parlamentsmitglied eben gerade noch werden kann, ohne die USA klipp und klar zu beschuldigen, sie hätten den Einmarsch in den Irak gezielt geplant und Großbritannien in die Sache mit hineingezogen.
Selbstverständlich ist es eine politische Rede wie derzeit jede in Großbritannien, wo in drei Monaten Parlamentswahlen stattfinden. Es geht um sechshundertundfünfzig Sitze, und das wichtigste Wahlkampfthema sind die mehr als zehntausend britischen Soldaten, die in Afghanistan gegen die Taliban kämpfen. Allerdings ist Fielding nicht beim Militär, und er hat sich auch nie groß um Außenpolitik oder Wahlen gekümmert. Deshalb habe ich keine Ahnung, warum er auch nur die Spur eines Interesses an den Ereignissen in Großbritannien hat, wo er meines Wissens nach nie gewesen ist. Er ist nicht der Mensch, der die dortigen Wahlen verfolgen oder etwas über die Royal United Services oder irgendeine andere Denkfabrik in Erfahrung bringen wollte. Und da ich ihn sehr gut kenne, habe ich den Verdacht, dass ich diese Mappe finden sollte. Und zwar, nachdem er sich wieder einmal verdrückt hat. Was möchte er mir damit mitteilen?
Weshalb befasst er sich damit? Hat er die Rede selbst im Internet gefunden, oder ist sie ihm zugeschickt worden? Wenn Letzteres zutrifft, von wem? Ich überlege, ob ich Lucy bitten
soll, Fieldings E-Mails durchzusehen. Doch ich bin noch nicht so weit, zu solch drastischen Maßnahmen zu greifen. Außerdem möchte ich nicht dabei erwischt werden. Ich kann zwar die Tür abschließen, doch da mein Stellvertreter eine Zutrittsberechtigung zu sämtlichen Räumen hat, bestünde dennoch die Möglichkeit, dass er plötzlich hereinspaziert käme. Ich glaube nicht, dass Ron, der unfreundlich zu mir war und keine hohe Meinung von mir zu haben scheint, Fielding aufhalten oder versuchen würde, mich zu erreichen, um meine Zustimmung einzuholen. Inzwischen kann ich mich nämlich nicht mehr darauf verlassen, dass meine Mitarbeiter loyal sind, sich bei mir gut aufgehoben fühlen oder meine Anweisungen befolgen. Und deshalb könnte Fielding jeden Moment hier auftauchen.
Es würde zu ihm passen, sich ohne Vorwarnung in Luft aufzulösen, um dann ebenso überraschend wieder zu erscheinen und mich in flagranti dabei zu ertappen, wie ich an seinem Schreibtisch sitze und seine Dateien durchforste. Das wäre dann ein weiterer Punkt, den er gegen mich verwenden könnte, wie er es im Lauf der Jahre schon so oft getan hat. Was hat er hinter meinem Rücken getrieben? Mal schauen, worauf ich sonst noch stoße, bevor ich entscheide, was zu tun ist. Wieder betrachte ich den Datumsstempel und male mir aus, wie Fielding um 8 Uhr 03 morgens auf genau diesem Stuhl gesessen und die Rede ausgedruckt hat, während Lucy, Marino, Anne, Ollie und alle anderen wegen der Vorgänge unten in der Kühlkammer in hellem Aufruhr waren.
Wie seltsam, dass Fielding trotz der dramatischen Ereignisse hier oben in seinem Büro geblieben ist. Ich frage mich, ob es ihn überhaupt berührt hat, dass wir möglicherweise einen lebendigen Menschen in unsere Kühlkammer gesperrt haben. Aber es kann ihn nicht kaltgelassen haben. Im schlimmsten Fall hätte man nämlich ihm die Schuld gegeben.
Letztlich wäre zwar ich in den Nachrichtensendungen zerrissen worden und hätte vermutlich meine Stelle verloren, doch er wäre mit mir untergegangen. Und dennoch saß er hier im sechsten Stock in seinem Büro, fernab vom Geschehen. So, als wäre seine Entscheidung bereits gefallen, und mir schießt durch den Kopf, dass sein Verschwinden vielleicht andere Gründe hat. Als ich mich in seinem Stuhl zurücklehne und mich umschaue, bleibt mein Blick an dem Notizblock und dem Kugelschreiber neben dem Telefon hängen, und ich bemerke schwache Abdrücke auf dem obersten Zettel.
Ich schalte eine Lampe ein, nehme den Block und halte ihn in verschiedenen Winkeln ans Licht, um die eingeprägte Schrift zu deuten, die wie ein Fußabdruck zurückbleibt, nachdem jemand sich etwas auf einen oben liegenden Zettel notiert hat, der inzwischen fehlt. Eine Eigenart von Fielding ist
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