Bator, Joanna
David
dreimal sagen musste. Papa!, bevor der Vater reagierte. Nach einem Monat
kehrte Ignacys Sohn um fünf Kilo leichter und zehn Jahre älter aus Polen
zurück, brachte Geschichten mit von schmutzigen Städten und Mauern, die noch
Kugelspuren trugen und daneben frische Schriftzüge »Juden ins Gas« oder
Zeichnungen von einem Davidsstern in einer Galgenschlinge. Dieser Junge, der
mit achtzehn Jahren gerne Jacketts und Hüte trug, die ihn gesetzter erscheinen
ließen, weil er sich immer schon älter gefühlt hatte als er war, fand in
Warschau nicht die Straßen, die an Sommernachmittagen die beschwingte Stimmung
Pariser Boulevards hatten, nur breite Schneisen durch das Grau gesichtsloser
Häuser, Schneisen, die in kein Zentrum führten, sondern in Vorstädte, die
unvermittelt in Kohlfelder und Schlamm übergingen. Er nahm einen Bus und stieg
an der Endhaltestelle aus, wo es schon dörflich war, sah vor einem Laden Männer
Bier trinken, Frauen eilten fuchtelnd auf sie zu, als wollten sie zuschlagen,
stießen aber nur Schmähworte aus, die wirkungslos im Schlamm versickerten.
David fuhr mit demselben Autobus wieder ins Zentrum und suchte die
Vergangenheit des Vaters in den Straßen des Ghettos, die abgebrannt waren, in
den Cafes, die es nicht mehr gab, vor der fremden Universität. Ignacy Goldbaums
Sohn gefiel nur der Kulturpalast, der ihn an Gebäude in New York erinnerte,
überspannte, kühne Türme, die in den Himmel ragten, der ihre Hässlichkeit
gnädig milderte, die Umrisse verschwimmen ließ, die Spitzen in Nebel hüllte, so
dass es dem kopfreckenden Betrachter schien, als schwebten sie. David lieh
sich ein Auto, um nach Zalesie zu fahren, und erzählte seinem Vater von zwei
verschreckten Frauen aus einem Holzhaus am Rand des Dorfes. Er erzählte von den
vielen Schwalben unter dem Dachüberhang, von der älteren Frau, die Zigaretten
ohne Filter rauchte und einem nicht gerade aufgeweckten Mädchen mit
stachelbeergrünen Augen, das dem Anschein nach zu urteilen in seinem Alter war
- keine der beiden hatte etwas von einem Engel oder einer Verführerin an sich.
Der vom Land seiner Vorfahren enttäuschte David hielt es nicht für möglich,
dass Zofia mit ihrer ungesunden Gesichtsröte und der verfleckten Schürze, oder
Jadzia, ein Landmädchen mit dem Charme einer Dampfnudel, mit ihm oder seinem
Vater etwas gemein haben könnten. Vor allem jedoch hielt er es nicht für
möglich, dass er, David Goldbaum, mit diesem Land etwas gemein haben konnte,
das sich als schrecklicher Irrtum auf der Karte dieser Welt erwiesen hatte, und
viele Jahre dachte er, das Schlimmste, was ihm widerfahren könnte, wäre, in
Warschau zu wohnen und über eine dieser Straßen zur Arbeit fahren zu müssen,
die aussahen, als hätte sie ein verrückt gewordener Goliath zwischen den
hässlichen Häusern herausgehauen.
Nun wusste
Ignacy Goldbaum zwar, dass Zofia lebte, doch auf dem Bild, das sein Sohn ihm
mitbrachte, war für ihn kein Platz. Sie lebte und hatte eine erwachsene Tochter,
die weder ihm noch ihr glich, auf der Schwelle ihres Holzhauses standen
Männerschuhe. Jan Kos hatte ihn belogen, und die Erinnerung an den Widerwillen
des Partisanen mit der Narbe auf der Wange, der ihn aus Zofias Haus geholt
hatte, wurde in Ignacy mit einem Mal so lebendig, als habe er gestern noch mit
ihm im Zalesier Wald gesessen. Vielleicht hatte sie Janek Kos geheiratet? Manchmal
war Doktor Goldbaum so in Gedanken versunken, dass seine Frau ihn stupsen
musste, um ihn von Zalesie nach Pasadena zurückzuholen. Sie kannte seine
Geschichte und wusste von Zofia. Wenn ich sterbe, findest du sie wieder, sagte
sie einmal ohne jeden Groll. Je älter er wurde, desto mehr ergriff ein Gedanke
von Doktor Ignacy Goldbaum Besitz: dass er Rechnungen zu begleichen hatte. Er
sprach viel mit Gott und seiner Familie darüber, doch sowohl der eine wie die
anderen waren meistens mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Anfangs wollte er
die Rechnung vor allem mit denen begleichen, die ihm etwas geraubt hatten, und
er nahm sogar an einer Reise nach Argentinien teil, wo die Verbrecher mit
feisten Fressen und kleinen blassen Äuglein Unterschlupf gefunden hatten und
jetzt mit ehemaligen Diktatoren Golf spielten. Doch mit der Zeit trat eine
andere Abrechnung in den Vordergrund, denn wenn er auf der Terrasse seines
Hauses saß, Bach-Kantaten hörte und auf das Meer blickte, beschlich ihn das
Gefühl, dass er doch eigentlich sehr viel bekommen hatte und es vielleicht gar
nicht mehr schaffen
Weitere Kostenlose Bücher