BattleTech 09: Ein Erbe für den Drachen
Ihre Haltung war aufrecht, so daß ihr Gewand nur ein absolutes Minimum an Falten aufwies. Sie saß auf einem Stuhl, eine Konzession an ihre sechsundsiebzig Standardjahre. Florimels himmelblaue Augen blickten aus einem Porzellangesicht, das gesetzt wirkte und trotz der frühen Morgenstunde mit dem formellen Hof-Make-up geschminkt war. Das Make-up verleugnete ihr Alter, ließ sie dreißig Jahre jünger aussehen. Die Augen schienen jetzt freundlich zu blicken, aber Constance wußte, daß sich das sehr plötzlich ändern konnte. Sie hatte sie schon hart und unversöhnlich auf Feinde des Reiches herabblitzen sehen.
»Shoshinsha Constance«, begann Florimel. »Mit dem Morgengrauen bricht ein neuer Tag an, der Tag der Abschlußfeier für die gegenwärtige Klasse in der Weisheit-des-Drachen-Schule. Heute nacht findet eine weitere Promotion statt, eine, die nicht vom Pomp und Zeremoniell einer Militärakademie begleitet wird. Diese Promotion wird ihrem Wesen nach einfach und unverfälscht sein und im Einklang mit dem Weg stehen. So muß es auch sein im Orden der Fünf Säulen. Wir erkennen nur, was ist.«
Florimel hörte auf zu sprechen. Das Schweigen hielt so lange an, daß Constance angenommen hätte, die Person auf dem Stuhl sei eingeschlafen, hätte es sich um jemand anders als ihre Großtante gehandelt.
»Heute nacht werden wir erkennen, daß du, Constance Kurita, keine Schülerin mehr bist. Empfange unsere Glückwünsche, Jukurensha Constance. Du wirst die Morgensonne als Adeptin des Ordens der Fünf Säulen begrüßen.«
Constance sah sich nicht in der Lage, klar zu denken. Hier, ganz unerwartet, war das Ziel erreicht, das sie seit Jahren angestrebt hatte. Sie hatte sich noch nicht bereit gefühlt. Es gab noch so viel zu lernen.
»Nun, mein Kind, hast du nichts zu sagen?« Bei dieser Frage lächelte Florimel nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen.
»Ich bin überrascht«, sagte Constance zögernd. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich dieses Ziel so früh erreichen würde.«
Ein klein wenig von der Freude verließ Florimels Lachen. »Deine Reise ist noch lange nicht vorüber, Tochter meines Herzens. Du hast nichts erreicht, außer einer weiteren Stufe. Ein Adept ist nicht perfekt. Perfektion ist eine Reise, kein Ziel. In dieser Reise findet sich Ehre. Das Ziel erreicht zu haben, oder genau, zu glauben, daß man sein Ziel erreicht hat, heißt, versagt zu haben. Mein Vertrauen in dich ist groß. Es wird kein Versagen geben.«
»Dein Vertrauen ehrt mich, Jokan Florimel.«
Odas Lachen unterbrach die gesetzte Ruhe der Formalitäten.
»Du wirst noch durch mehr geehrt werden, Constance-sama«, versicherte ihr Oda trocken.
Constance musterte den Shudocho durchdringend, aber sein Gesichtsausdruck war nichtssagend, der Sinn seiner Worte blieb ihr verschlossen.
Florimel gönnte ihr einen tröstenden Blick und sagte dann zu Oda: »Oda-kun, dein Abstand zu den Verwirrungen der Jugend ist noch nicht so groß wie meiner. Wenn ich Toleranz zeigen kann, dann kannst du das auch. Achte auf deine Manieren.«
»Wie du meinst, Jokan«, bestätigte Oda mit einer Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, blieb sein Blick auf Constance haften. Seine Stimme war rauh und mit einer gezügelten Emotion unterlegt, die Constance nicht identifizieren konnte. »Es stimmt, daß du die Morgensonne als Jukurensha begrüßen wirst, aber bei Sonnenuntergang wirst du schon keine mehr sein.«
»Wie bitte?« Constances Augen weiteten sich im Schock.
»Bedauerlicherweise ist es notwendig, daß du meinen Orden verläßt.«
Als der Shudocho nichts weiter sagte und auch eine eingehende Musterung seines Gesichts nichts ergab, wandte sich Constance an ihre Großtante. Ihre Bestürzung verschwand, als sie ein übermütiges Funkeln in den Augen der alten Frau entdeckte.
»Er hat völlig recht, Constance. Du mußt den Orden verlassen, wenn du die nächste Stufe auf deiner Reise erklimmen willst. Am heutigen Tage und vor Devlin Oda, dem Herrn der Säulen, erkläre ich dich zu meiner Nachfolgerin für das Amt der Wahrerin der Ehre des Hauses.«
»Wie bitte?« keuchte Constance, die sich dumm vorkam, da sie sich wiederholte. Ihre Schlagfertigkeit hatte sie verlassen. Die spitzfindigen Reaktionen dessen, was ihr Vater den ›Verstand eines Anwalts‹ nannte, hatten sich in Luft aufgelöst. Verlegen suchte Constance tief in sich nach der Gelassenheit, die man sie gelehrt hatte zu pflegen. Nach einer beschämend langen Zeit stammelte sie: »Wie
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