Baudolino - Eco, U: Baudolino
unten liegt Selymbria, das trophäengeschmückte!« Und mit Trophäen geschmückt war sie tatsächlich, die kleine Stadt mit den niedrigen Häusern und schmalen Gassen, die menschenleer vor ihnen lagen, denn – wie sie später erfuhren – die Einwohner feierten gerade den Tag nach dem Fest eines Heiligen oder Erzengels. Mit Girlanden geschmückt war auch eine hohe weiße Säule, die sich auf einem offenen Platz am Stadtrand erhob, und Niketas erklärte Baudolino, dass vor Jahrhunderten auf dieser Säule ein Eremit gelebt habe, der bis zu seinem Tod niemals heruntergekommen sei und dort oben zahlreiche Wunder vollbracht habe. Aber Menschen dieses Schlages gebe es heute nicht mehr, und vielleicht sei auch das einer der Gründe für das Unglück des Reiches.
Sie begaben sich unverzüglich zum Haus jenes Freundes, auf den Niketas vertraute, und dieser Theophilattos, ein älterer Herr, gastfreundlich und jovial, empfing sie mit wahrhaft brüderlicher Liebe. Er ließ sich über ihr Unglück ins Bild setzen, beklagte mit ihnen das zerstörte Konstantinopel, zeigte ihnen das Haus, in dem es viele leere Zimmer für die ganze Gästeschar gab, und erquickte sie unverzüglich mit jungem Wein und einem üppigen Salat mit Oliven und Käse.
»Bleibt ein paar Tage im Haus, ohne auszugehen«, empfahl er. »Hierher sind schon viele Flüchtlinge aus Konstantinopel gekommen, und die Leute hier sind noch nie besonders gut auf die aus der Hauptstadt zu sprechen gewesen. ›Jetzt kommt ihr daher und bettelt um Almosen, ihr, die ihr immer so große Töne gespuckt habt‹, sagen sie. Undein Stück Brot lassen sie sich in Gold aufwiegen. Aber wenn es nur das wäre. Hierher sind seit einiger Zeit auch Lateiner gekommen. Sie haben sich von Anfang an sehr großspurig aufgeführt, wie also erst jetzt, seit sie wissen, dass Konstantinopel ihnen gehört und einer von ihren Anführern der Basileus wird. Sie laufen in purpurgesäumten Gewändern herum, die sie unseren hohen Beamten weggenommen haben, sie setzen die aus den Kirchen geraubten Mitren ihren Pferden auf den Kopf, sie grölen unsere Hymnen in einem von ihnen erfundenen Griechisch, in das sie obszöne Wörter aus ihren Sprachen mischen, sie kochen ihre Speisen in unseren geweihten Gefäßen, und sie führen ihre Dirnen als große Damen umher. Früher oder später wird auch das vorübergehen, aber fürs erste habt ihr hier bei mir Ruhe vor ihnen.«
Baudolino und Niketas wünschten sich nichts lieber. In den nächsten Tagen erzählte Baudolino seine Geschichte unter Ölbäumen weiter. Sie saßen bei neuem Wein und Oliven und kosteten Oliven, Oliven und nochmals Oliven, um wieder neuen Durst auf Wein zu bekommen. Niketas war begierig zu hören, ob die Reisenden nun endlich zum Reich des Priesters Johannes gelangt waren.
Ja und nein, sagte Baudolino. Auf jeden Fall mussten sie zuvor noch den Sambatyon überqueren. Und dieses Abenteuer begann er sogleich zu erzählen. Und wie er zart und behutsam gewesen war, als er von Abduls Tod erzählt hatte, so war er nun episch und majestätisch, als er von dieser Flussüberquerung berichtete. Woran man sah, dachte Niketas ein weiteres Mal, dass Baudolino ein bisschen wie jenes seltsame Tier war, von dem er – Niketas – nur gehört, das Baudolino aber vielleicht auch gesehen hatte, nämlich das sogenannte Chamäleon, das ähnlich wie eine sehr kleine Ziege aussieht und je nachdem, wo es sich gerade befindet, seine Farbe wechselt, wobei es von Schwarz bis Zartgrün variieren und nur Weiß, die Farbe der Unschuld, nicht annehmen kann.
Traurig über den Tod ihres Gefährten, machten die Reisenden sich wieder auf und gelangten erneut in eine gebirgigeGegend. Beim weiteren Eindringen hörten sie erst ein fernes Rumoren, dann ein immer lauter und deutlicher werdendes Poltern und Prasseln, als stürzte eine Lawine aus Steinen und Felsbrocken von einem Gipfel und risse donnernd Geröll und Erdreich mit sich zu Tal. Dann gewahrten sie eine Staubwolke, ähnlich einem Dunst oder Nebel, aber im Unterschied zu einer feuchten Masse, die das Sonnenlicht getrübt hätte, glitzerten hier unzählige Reflexe, als brächen sich die Sonnenstrahlen in einem Gewimmel von mineralischen Atomen.
Als erster begriff Rabbi Solomon: »Das ist der Sambatyon!« rief er. »Also sind wir unserem Ziel nicht mehr fern!«
Es war tatsächlich der steinerne Fluss, und das wurde ihnen klar, als sie an sein Ufer gelangten, betäubt von dem brüllend lauten Getöse, in dem sie kaum
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