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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Leichenstarre, und der Strudel am Grund der Schlucht verwandelte sich in ein träges steiniges Tal, über dem ganz plötzlich ein unheimliches Schweigen herrschte.
    Nach dem, was ihnen erzählt worden war, erwarteten sie nun, dass sich am Ufer des Flusses eine Flammenwand erhob. Aber nichts dergleichen geschah. Der Fluss lag schweigend da, die aufgewirbelten Teilchen sanken langsam ins Flussbett nieder, der nächtliche Himmel klarte auf und enthüllte ein Blinken und Funkeln von Sternen, das bisher verborgen geblieben war.
    »Da kann man mal sehen, dass man nicht immer alles glauben darf, was einem erzählt wird«, folgerte Baudolino. »Wir leben in einer Welt, in der sich die Leute die unwahrscheinlichsten Geschichten ausdenken. Solomon, diese hierhabt ihr Juden in Umlauf gesetzt, um die Christen daran zu hindern, in diese Gegend zu kommen.«
    Solomon antwortete nichts darauf, denn er war ein Mann von rascher Auffassungsgabe und hatte verstanden, wie Baudolino ihn über den Fluss zu bringen gedachte. »Ich werde nicht einschlafen«, sagte er rasch.
    »Mach dir keine Sorge«, erwiderte Baudolino, »ruh dich aus, während wir eine Furt suchen.«
    Solomon wäre gerne geflohen, aber am Sabbat konnte er weder ein Pferd besteigen noch gar zu Fuß durch die Berge entkommen. So blieb er die ganze Nacht lang sitzen, den Kopf in die Fäuste gestützt, und verfluchte zusammen mit seinem Los die verfluchten Gojim.
    Am nächsten Morgen, als die anderen eine Stelle gefunden hatten, wo man den Fluss gefahrlos überqueren konnte, ging Baudolino zu Solomon, lächelte ihm verständnisvoll zu und schlug ihm mit einem Holzhammer direkt hinters Ohr.
    Und so geschah es, dass Rabbi Solomon, als einziger unter allen Kindern Israel, im Schlaf den Sambatyon an einem Sabbat überquerte.

 
    29. Kapitel
    Baudolino kommt nach Pndapetzim
     
    Den Sambatyon überquert zu haben hieß noch nicht, im Reich des Priesters Johannes angekommen zu sein. Es hieß nur, dass sie die bekannten Teile der Erde verlassen hatten, selbst die, zu denen die kühnsten Reisenden vorgedrungen waren. Und tatsächlich mussten unsere Freunde noch viele Tage weiterziehen, durch Gegenden, die mindestens so zerklüftet wie die Ufer des steinernen Flusses waren. Dann gelangten sie in eine Ebene, die nicht aufhören wollte. Fern am Horizont war eine Bergkette zu erkennen, ziemlich niedrig, aber gezackt mit steilen, fingerdünnen Spitzen, die Baudolino an die Form der Alpen erinnerten, wie er sie als Kind gesehen hatte, als er ihren östlichen Teil auf dem Weg von Italien nach Deutschland durchquert hatte – aber die waren viel höher und eindrucksvoller gewesen.
    Die Bergkette war jedoch ganz im Osten, und in der weiten Ebene vor ihr kamen die Pferde nur mühsam voran, da überall eine üppige Vegetation wuchs, die aussah wie reifes Getreide, nur dass es sich nicht um Getreide handelte, sondern um eine Art grüngelbes, mehr als mannshohes Farnkraut, und diese fruchtbare Steppe erstreckte sich, so weit das Auge reichte, wie ein leicht gewelltes, von einer ständigen Brise bewegtes Meer.
    Als sie auf eine Lichtung kamen, gleichsam auf eine Insel in diesem Meer, sahen sie, dass in der Ferne, und zwar nur an einer Stelle, die Oberfläche sich nicht mehr in gleichmäßigen Wellen bewegte, sondern eher im Zickzack, als würde ein Tier, ein sehr großer Hase, das Farnkraut durchpflügen, aber wenn es ein Hase war, bewegte er sich auf einer weit ausholenden Zickzacklinie und sehr viel schneller als ein gewöhnlicher Hase. Da unsere Abenteurer schon;einigen nicht gerade Vertrauen einflößenden Tieren begegnet waren, strafften sie die Zügel und machten sich auf einen neuen Kampf gefasst.
    Die Zickzacklinie kam auf sie zu, und man hörte das Farnkraut rascheln. Kurz darauf erschien am Rand der Lichtung ein Wesen, das die Halme wie einen Vorhang mit den Händen zerteilte.
    Hände und Arme waren es ohne Zweifel, die das Wesen da hatte, das ihnen nun entgegenkam. Ansonsten aber hatte es nur ein einziges Bein. Nicht dass es verstümmelt gewesen wäre, denn dieses eine Bein verlängerte seinen Leib auf ganz natürliche Weise, als wäre nie Platz für ein zweites gewesen, und mit dem einzigen Fuß dieses einzigen Beins lief das Wesen ganz zwanglos, als hätte es von Geburt an nie etwas anderes gekannt. Ja, mehr noch, während es rasch auf sie zukam, vermochten sie nicht zu erkennen, ob es sich hüpfend bewegte oder ob es ihm seiner Beschaffenheit zum Trotz gelang, Schritte zu tun, also

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