Baudolino - Eco, U: Baudolino
Irdische Paradiese, aus denen sie verjagt worden wären. Haltet ihr es für denkbar, dass es von etwas so erhabenem wie dem Irdischen Paradies jede Menge Kopien gibt, so wie es viele Städte mit einem gewundenen Fluss und einem Hügel wie dem der Sainte-Geneviève gibt? Das Irdische Paradies gibt es nur einmal, in einem fernen Land jenseits des Reiches der Meder und Perser.«
Damit waren sie beim springenden Punkt angelangt und erzählten Boron von ihren Spekulationen über den Priester Johannes. Jawohl, Boron hatte diese Geschichte mit den christlichen Königen im fernen Orient von einem Mönch gehört. Er hatte den Bericht über einen Besuch gelesen, den vor vielen Jahren ein Patriarch aus Indien bei Papst Calixtus II. gemacht hatte. Darin wurde geschildert, wie mühsam es für den Papst gewesen war, sich mit ihm zu verständigen, wegen ihrer verschiedenen Sprachen. Der Patriarch hatte die Stadt Hulna beschrieben, durch die einer der Flüsse fließt, die im Irdischen Paradies entspringen, der Physon, den andere auch Ganges nennen, und wo auf einem Berg außerhalb der Stadt das Heiligtum steht, in welchem der Leib des Apostels Thomas aufbewahrt wird. Dieser Berg war unerreichbar, da er sich in der Mitte eines Sees erhob, aber für acht Tage im Jahr wich das Wasser des Sees zurück, und die guten Christen jener Stadt konnten hinübergehen, um den Leib des Apostels zu verehren, der noch ganz unversehrt war, als ob er gar nicht tot wäre, ja dessen Antlitz sogar, wie der Text besagte, strahlend wie ein Stern war, dessen Haare rot und schulterlang waren, der einen Bart trug und Kleider anhatte, die gerade erst frisch genäht zu sein schienen.
»Aber nichts besagt, dass dieser Patriarch der Priester Johannes war«, schloss Boron vorsichtig.
»Nein, sicher nicht«, meinte Baudolino, »aber es zeigt, dass man seit langer Zeit von einem fernen, glücklichen und hierorts unbekannten Reich spricht. Hör zu, in seiner Historia de duabus civitatibus hat mein vielgeliebter Bischof Otto berichtet, ein gewisser Hugo von Gabala habe gesagt, dass Johannes, nachdem er die Perser besiegt hatte, den Christen im Heiligen Land zu Hilfe kommen wollte, aber amUfer des Flusses Tigris haltmachen musste, weil er keine Schiffe hatte, um seine Männer übersetzen zu lassen. Also lebt Johannes jenseits des Tigris. Klar? Aber das Schöne ist, dass das alle gewusst haben mussten, bevor Hugo davon sprach. Lesen wir noch einmal aufmerksam nach, was Otto geschrieben hat, der ja nichts unüberlegt geschrieben hat. Wieso musste dieser Hugo hingehen und dem Papst erklären, warum Johannes den Christen in Jerusalem nicht hatte helfen können, als müsste er ihn rechtfertigen? Weil offensichtlich jemand in Rom tatsächlich schon diese Hoffnung gehabt hatte. Und an der Stelle, wo Otto sagt, dass Hugo den Namen Johannes nennt, fügt er hinzu: sic enim eum nominare solent – so nämlich pflegen sie ihn zu nennen. Was bedeutet dieser Plural? Offenbar, dass nicht nur Hugo, sondern auch andere solent , pflegen – und folglich schon damals pflegten – ihn so zu nennen. Weiter schreibt Otto, dass Hugo behauptet, Johannes habe sich, wie die Magier, von denen er abstammte, nach Jerusalem begeben wollen, aber dann schreibt er nicht, dass Hugo beteuert, das es ihm nicht gelungen sei, sondern fertur , es wird berichtet, und andere, im Plural, asserunt , versichern, dass es ihm nicht gelungen sei. Ihr seht, wir lernen von unseren Meistern, dass es keinen besseren Prüfstein der Wahrheit gibt«, schloss Baudolino, »als die Kontinuität der Tradition.«
Abdul raunte Baudolino ins Ohr, vielleicht habe auch Bischof Otto manchmal grünen Honig genommen, aber Baudolino stieß ihm mit dem Ellbogen in die Rippen.
»Ich habe noch nicht verstanden, warum euch dieser Priester so wichtig ist«, sagte Boron, »aber wenn es irgendwo etwas zu suchen gibt, dann nicht an einem Fluss, der aus dem Irdischen Paradies kommt, sondern im Irdischen Paradies selbst. Und da hätte ich manches zu erzählen ...«
Baudolino und Abdul drängten ihn, mehr über das Irdische Paradies zu sagen, aber er hatte den Fässern der Drei Kandelaber zu sehr zugesprochen und sagte, er könne sich an nichts mehr erinnern. Als hätten sie beide denselben Gedanken, ohne einander etwas zu sagen, fassten die beiden Freunde den wankenden Boron unter die Arme und brachten ihn in ihr Zimmer. Dort gab ihm Abdul einewohlabgemessene winzige Menge grünen Honig, nur eine Löffelspitze, und eine weitere teilte er
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