Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
Mainz?« Die Pause dauerte lange, und Siran grinste in sich hinein. »Sind Sie noch da?«
»Ja«, kam es schließlich zögerlich, ein wenig ängstlich.
»Was heißt ja?«
»Ja, ich bin noch da.«
»Haben Sie meine Frage verstanden? Kennen Sie das Matrjoschka?«
»Ich versuche gerade, mich zu erinnern, da ich häufig in Mainz unterwegs bin.«
»Denken Sie drüber nach. An ein Treffen mit Geschäftspartnern zum Beispiel, und halten Sie die Unterlagen bereit. Morgen um zwölf erwarten wir Sie hier zu einer kurzen Befragung. Passt Ihnen die Zeit?«
»Äh, nun ja, das könnte ich einrichten, aber ...«
Siran schnitt ihm das Wort ab: »Sehr gut. Auf Wiedersehen.« Er legte sofort auf und war zufrieden. Das Schweigen am anderen Ende war vielsagend gewesen. Pilsner war jetzt aufgeschreckt, ein Zustand, in dem Menschen Fehler machten. Fehler, die sie nutzen mussten, um Verbrecher zu überführen. Siran schaute zu Sophie Erdmanns Schreibtisch hinüber, der verwaist dalag. Sie war mit Steinrausch zur Ölmühle gefahren, um noch jemanden aufzuschrecken.
Er stand auf und füllte Wasser ins Çaydanlik.
*
Der Apathie folgte die Agonie. Sie spürte, wie das Leben sie verlassen wollte. Wirre Bilder sirrten vor ihren Augen wie ziellose Insekten in der Nacht. Sie sprach mit ihren Eltern, sogar mit der Großmutter, roch und schmeckte die Luft in einem Wohnzimmer, das es seit Jahren schon nicht mehr gab. In irrsinniger Geschwindigkeit sah sie Schnappschüsse ihres Lebens vorbeirauschen, so klar, als wäre sie wieder Teil der Szene. Wildes Tanzen, Lachen, das Meer und die Brandung, fühlte den Sex mit ihm körperlicher als in der Realität, begegnete allen, die ihr zu welcher Lebenszeit auch immer etwas bedeutet hatten, gleichsam als wolle sie sich verabschieden. Weinte beim Lächeln ihres Bruders, bevor er in seinem Käfer wie in einer Zitronenpresse zerquetscht wurde, als der Lkw auf ihm landete.
Ihr Geist kehrte zurück und brachte den Körper in Unruhe. Ihre Hände streiften die Bettdecke weg, ergriffen sie erneut und knickten sie hin und her. Sie hörte ihre Stimme wirres Zeug reden, mal Gebrabbel, mal klare Worte.
Ausgelaugt, skelettiert war sie nun. Die Schmerzen waren zurückgekommen, ein ums andere Mal. Schmerzen wie glühende Schwerter in ihrem Leib, schlimmer, immer schlimmer fuhren sie durch sie hindurch. Ihr Körper wie paralysiert, nur noch auf diese körperlichen Qualen ausgerichtet, verlor seine Kraft, mehr und mehr.
Sie gab sich auf und war froh darüber, nicht mehr kämpfen zu müssen. Doch sie musste auf ihn warten, darauf hoffen, dass er rechtzeitig kam, um sie zu begleiten. Die letzten Schritte zu zweit, wie sie zuvor schon Millionen gegangen waren, und doch ganz anders jetzt. Sie sah deren Ende, ein Paar Fußspuren brach ab, das andere strebte weiter. Ihre Atmung schnappte, Füße und Hände waren eiskalt, doch der Drache des Schmerzes hatte sich zurückgezogen, gönnte ihr das Finale in Frieden. So lag sie hier, Sekunde um Sekunde, Stunde um Stunde, bis er endlich kam.
Ein Rütteln am Bett, die Decke glattgezogen in unermüdlicher Fürsorge. Sie spürte seinen Atem auf ihren Wangen und öffnete die Augen, sah noch einmal sein Gesicht, sein Lächeln unter Tränen, dann schloss sie die Lider, um sie nie wieder zu öffnen.
*
Jan Brünjes fluchte leise, sein Bein kribbelte, und er versuchte, die Blutzirkulation abermals in Gang zu bringen. Er fror und langweilte sich, ohne dass sich auch nur die geringste Möglichkeit ergeben hätte, mehr zu sehen oder mitzubekommen, als die Fassade der Firma, von der hier und da die Farbe abblätterte. Nur die Sonne, die ihm ins Gesicht schien und endlich etwas Wärme brachte, lockerte seine Stimmung ein wenig auf.
Schneider & Jost hatten ihren Betrieb auf der Eurener Flur, einem Gewerbegebiet, das man in den Achtzigerjahren auf einem ehemaligen Flugplatz angelegt hatte. Das Gebäude war unscheinbar und glich den benachbarten Kästen: große Hallen mit Flachdach, an der Seite Rampen zum Abladen und Aufnehmen von Waren, in der ersten Etage eine Büroflucht. Das Eckbüro war mit ziemlicher Sicherheit das des Chefs. Er hatte schon in viele dieser mittelständischen Unternehmungen gesehen und Eigentümer erlebt, die kollegial mit den Mitarbeitern umgingen, wohingegen andere hinter einem völlig überdimensionierten Schreibtisch residierten und die Leute mehr anschrien als leiteten.
Diese Firma war diskret. Nirgendwo ein Namenszug, nur der Briefkasten wies den Weg.
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