Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
»Der spinnt. Ich schicke dem eine Vorladung.« Er ließ sich die Daten von Siran geben und wollte gleich den Brief schreiben, doch Lichthaus hielt ihn zurück: »Mach mal langsam. Was hast du über Görgen herausgefunden?«
»Unmengen. Da gibt es viel zu tun. Was sagt denn unser allseits geliebter Chef zur Unterstützung oder einer Soko?«
»Na, was wohl?« Lichthaus äffte Müllers nasalen Ton nach: »Das entscheiden wir später. Er will auf die Ergebnisse der Besprechung warten.«
»Toll. Also Horst Görgen ist Jahrgang 48. Sein Vater hat den Hof bis in die Siebziger bewirtschaftet, dann ist der Betrieb an ihn übergegangen. Er hat eine noch lebende Schwester, Astrid. Ein Bruder ist bereits verstorben. Nach dem Abi 1967 am Cusanus-Gymnasium in Wittlich hat Görgen seinen Wehrdienst im Fliegerhorst Büchel angetreten. Wachbataillon. Er hatte sofort nach seiner Einberufung einen Wehrdienstverweigerungsantrag eingereicht, der aber nicht bearbeitet worden ist, da Görgen aufgrund eines angeblichen Herzklappenfehlers untauglich wurde. Zu dieser Erkrankung habe ich allerdings nichts mehr gefunden. War wohl getürkt.« Er schaute verlegen zu Siran. »Entschuldigung!« Doch der grinste nur und winkte ab. »Im Sommersemester 68 hat er ein Studium der Agrarwissenschaften in Frankfurt aufgenommen, ist dort jedoch sehr schnell in die Protestbewegung gerutscht. Moment bitte.« Steinrausch suchte in seinen Unterlagen.
Lichthaus nutzte die Pause für eine Zwischenfrage. »Was ist mit dem Bruder?«
»Herbert Görgen. Der ist in den frühen Sechzigern bei einem Traktorunfall ums Leben gekommen. Er war sieben Jahre älter als Horst und sollte den Hof übernehmen. Astrid liegt zwischen den beiden.«
Steinrausch kramte in seiner gewohnt unsortierten Weise in dem Stapel Papier. »Mensch, wo ist denn ...? Hier. 12. April 68. Protest vor der Societäts-Druckerei in Frankfurt. Die haben damals für die BILD gedruckt, und die Studenten waren der Meinung, dass die Hetzkampagne der Zeitung für den Tod von Benno Ohnesorg verantwortlich sei. Riesige Straßenschlacht, bei der Görgen angeblich einen Polizisten verletzt und daraufhin vier Tage in Gewahrsam gesessen hat. Verurteilt wurde er allerdings nicht. Er hat sich einige Zeit in der Szene rumgetrieben, ohne sein Studium weiterzuverfolgen. Bis 1971 hat er in Frankfurt gelebt, dort dann Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit kennengelernt, soll sogar mal einen Monat bei den beiden zur Untermiete gewohnt haben. Die zunehmende Gewaltbereitschaft der linken Gruppen hat er begrüßt und war auch bei wenigstens drei Aktionen dabei. Hierfür liegen uns Belege vor. Er ist mit einem Schlägertrupp festgenommen worden, der bei Demonstrationen die Polizisten verprügelt hat. Man hat ihm schließlich eine Vorstrafe wegen Körperverletzung verpasst.«
»Hat es bei diesen Vorfällen Geschädigte gegeben, die jetzt vielleicht Rache üben wollen?«, warf Siran ein.
Lichthaus zögerte: »Nach so langer Zeit? Glaube ich eigentlich nicht. Erst wenn wir nicht weiterkommen, müssen wir das ins Visier nehmen.« Er machte sich eine Notiz und forderte Steinrausch auf weiterzumachen.
»1972 hat er sein Studium endgültig geschmissen, war in der Spontiszene aber weiter aktiv. Seit etwa 1970 scheint er mit seiner Frau Renate zusammen zu sein, man hat sie in diesem Jahr einmal gemeinsam verhaftet. Sie hat ihr Studium in Kunstgeschichte und Englisch auch nicht abgeschlossen, wurde irgendwann schwanger und ist mit ihrem Mann auf den Hof gezogen, als dessen Vater verstorben ist. Sie war nie berufstätig. Roland kam 1973, drei Jahre darauf Anne und wieder ein Jahr später Alexander. Görgen wird anschließend nicht mehr aktenkundig. Seine linke Gesinnung ist er jedoch nie so recht losgeworden, denn er wurde bei einer Protestaktion gegen die Haftbedingungen der RAF-Typen vor dem Knast in Wittlich fotografiert. Einer der Terroristen hat sich da oben zu Tode gehungert.«
Siran stand auf. »Sagt mir nichts. Çay ist fertig. Wer will?« Als die beiden anderen nickten, stellte er Teegläser auf ein Tablett, um sie bis etwa zu einem Drittel mit dem nun tiefdunklen Tee zu füllen. Dann goss er den Rest der Gläser mit heißem Wasser auf. Dazu gab es ein Tellerchen mit kleinen klebrigen Plätzchen, die aus mehreren Teigplatten bestanden.
»Das sind Baklava. Hab ich gestern in einem türkischen Supermarkt entdeckt. Die Füllung besteht aus gemahlenen Pistazien.«
Lichthaus und Steinrausch bedienten sich und genossen
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