Bauernopfer
diese Variante sprachen nach Stöbners Darstellung vor allem die nur teilweise durchsuchte Wohnung, die entwendeten Wertgegenstände und die zweckentfremdete Tatwaffe. Auch die spärliche Spurenlage ließ sich damit erklären, dass der in Panik geratene Einbrecher vermutlich ohnehin Handschuhe getragen und zusätzlich nach der Tat alle relevanten Stellen abgewischt hatte. Tatsächlich hatte er der Spurensicherung, die damals noch nicht über die umfangreichen Methoden und Kenntnisse von heute verfügte, die wichtigste Grundlage entzogen. Schuhabdrücke waren aufgrund der trockenen Witterung nicht vorhanden. Eventuelle Faserspuren konnten nur einem Vergleich mit der Kleidung eines Tatverdächtigen dienen und auswertbare Fingerspuren konnten am Aschenbecher und am Wohnzimmerschrank nicht mehr gesichert werden. An verschiedenen Stellen im Wohnzimmer fanden sich Fingerspuren von Spachtholz, dessen Frau und auch von Gessler. Er hatte sich allerdings zuvor immer wieder berechtigt in der Wohnung des Ehepaares Spachtholz aufgehalten, wenn es kurzfristig betriebliche Details zu besprechen gab. Damit war die damalige Palette an Spurensicherungsmaßnahmen erschöpft.
In einem zweiten Ordner fanden sich kopierte Schwarzweißfotos und verblasste Tatortskizzen. Charly war seit 24 Jahren bei der Polizei und diese Akten waren zehn Jahre vor seinem Eintritt angelegt worden. Er stellte sich die Kollegen vor, wie sie mit einer Rolleicord Rollfilmkamera und Blitzwürfeln hantierten. Mit einer solchen Kamera hatte er ja selbst noch die ersten Unfälle fotografiert. Und dann Skizzen gezeichnet, die im Lichtpausverfahren mit ätzendem Ammoniak und einer Neonröhre sekundengenau belichtet wurden. Es hatte zu dieser Zeit und auch bei seinem Dienstantritt noch keinen Computer auf den Dienststellen gegeben, dafür einen Fernschreiber: einen Holzkasten von der Größe eines Klaviers, auf dem man zwischen Buchstaben und Zahlen oder Sonderzeichen jeweils hatte umschalten müssen, sonst kam nur unleserliches Kauderwelsch heraus. Dabei war ein Lochstreifen mitgetuckert, den man morgens um vier zerschnitten und wieder zusammengeklebt hatte, um daraus einen Lagebericht zu basteln. Außerdem musste man das halbe Funker-Codebuch auswendig kennen, um eine Gutquittung zu erzwingen und so sein Fernschreiben endlich abzusetzen. Im Zeitalter von E-Mail und Internet, von elektronischem Fernschreibversand, Kopieren und Einfügen, Suchen und Ersetzen, nicht mehr vorstellbar. Es war irgendwie ein anheimelndes Gefühl, diese alten Akten zu lesen. Man konnte den Kopien förmlich ansehen, dass die Originale nach Carbon und Stempelfarbe rochen. Damals musste man sich noch vor dem Schreiben überlegen, wie viele Durchschläge man benötigte, ob man hinter dem Original sieben oder acht butterbrotpapierähnliche Seiten mit Kohlepapier in die Maschine quetschte. Einfach einen Ausdruck mehr oder eine Kopie zusätzlich hat es damals noch nicht gegeben.
»Hallo, Erde an Charly!« Helmuth fuchtelte mit beiden Armen vor Charly herum. Offenbar versuchte er schon seit geraumer Zeit, Charlys Aufmerksamkeit zu erregen. Aber Charly war so sehr in seine Gedanken an früher vertieft gewesen und so beeindruckt von der Vorstellung, welche Entwicklung er bei der Polizei schon mitgemacht hatte, dass er die Frage seines Kollegen nicht gehört hatte.
»Was denn?«
»Was mach ma denn heut Mittag?«
»Keine Ahnung, da hab ich noch nicht nachgedacht, mir wurscht.«
»Hey, diese Frau sagen, so Döner wär ned so schlecht, oder?« Helmuth deutete auf Sandra und die nickte zustimmend.
»Okay! Von mir aus.«
»Hey, voll gut, Mann. Du holst!« Es war jetzt 11.00 Uhr und Charly versprach, in einer halben Stunde Döner zu besorgen. Bis dahin studierte er weiter die Akten. Er las Gesslers damalige Vernehmung und auch die Aussagen der anderen Beteiligten. Gessler hatte angegeben, sich zur Tatzeit in der drei Kilometer entfernten Firma aufgehalten zu haben und dort in seinem Büro mit Plänen für neue Werkstücke beschäftigt gewesen zu sein. Aus einem Aktenvermerk ging hervor, dass derartige Pläne tatsächlich in Gesslers Büro auflagen und darauf mehrere handschriftliche Änderungsvermerke mit Datumsangaben des Tattages zu sehen waren. In weiteren Vernehmungen waren alle Betriebsangehörigen und die Witwe des Getöteten global nach allen möglichen Personen aus dem Umfeld von Johann Spachtholz befragt worden. Dabei war Gessler immer wieder als engagierter und fachkundiger Ingenieur
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