Bauernsalat
Stunden bis zum Morgengrauen hatte ich heftig von Alexa geträumt, bis ich schließlich ab sechs Uhr wieder am Schreibtisch gesessen hatte, um meinen Unterricht vorzubereiten.
Ich bestellte noch einen Espresso und rieb mir die Augen. Hannah Schulte-Vielhaber hatte einen Liebhaber. Ganz offensichtlich in aller Heimlichkeit denn weder hatte Alexa davon gewußt noch war dieser Künstler auf der Beerdigung aufgetaucht. Außerdem hatte Hannah das Auto hinter die Scheune gestellt offenbar, um es vor neugierigen Blicken zu schützen. Hochoffiziell gab es Lutz Demmert also nicht – fragte sich nur, warum.
Ich rief mir noch einmal Elmars Mutter ins Gedächtnis. Sie war in den Ermittlungen bislang völlig vernachlässigt worden. Natürlich weil sie ein Alibi hatte oder, besser, ein Beinah-Alibi. Schließlich hatte Frau Wiegand bei ihr Eier gekauft und sofort anschließend draußen die Stimmen gehört. Hannah hätte also durch einen anderen Ausgang zu ihrem Schwager stürmen, sich heftig mit ihm fetzen und ihn dann von der Leiter holen müssen. Schier unmöglich. Außerdem hatte Gertrud Wiegand eine männliche Stimme gehört. So war Elmars Mutter schlichtweg aus den Ermittlungen rausgefallen. Jetzt aber änderte sich die Lage. Hannah Schulte-Vielhaber hatte einen Freund, der vielleicht genauso viel Interesse am Tod des Ekelbauern hatte wie Hannah selbst. Und die mußte ein Interesse haben – ganz klar. Seit Jahren hatte sie mit Franz Schulte-Vielhaber unter einem Dach gelebt, hatte seine grobe Art und vielleicht sogar ungewollte Annäherungen überstehen müssen. Außerdem mußte sie unter der ständigen Angst gelitten haben, daß Elmar, ihr einziger Sohn, enterbt wurde, obwohl der seine ganze Kraft in die Erhaltung des Hofes gesetzt hatte. In der Tat – die Lage hatte sich geändert. Es stellte sich heraus, daß Elmars Mutter das bei weitem stärkste Motiv überhaupt hatte. Ihr Schwager Franz hatte Elmar und Anne das Leben zur Hölle gemacht. Es mußte furchtbar für sie gewesen sein, wie die Beziehung in die Brüche ging, nur weil der Alte sich ständig einmischte. Und was konnte sich Hannah mehr wünschen, als daß Elmar glücklich verheiratet war? Schließlich profitierte sie selbst auch davon. Unter Umständen würde sie dann ohne schlechtes Gewissen vom Hof weggehen und zu ihrem Lutz ziehen können. Für Lutz selbst war klar: Solange Altbauer Franz lebte, würde Hannah sich nie ganz für ihn entscheiden können. Ohne Franz aber konnte Elmar sich an Anne binden und Hannah wäre frei.
Inzwischen machte sich das Koffein in meinem Körper breit und entfachte in mir eine ungesunde Unruhe. Ich versuchte klar zu denken und alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Lutz Demmert konnte sich von hinten an den Hof angenähert haben, mit einem Fahrrad vielleicht. Unter Umständen hatte Hannah ihm vorher mitgeteilt, daß ihr Schwager wieder an der Dachrinne zugange war. Lutz konnte Franz von der Leiter geholt haben und direkt verschwunden sein. Vielleicht hatte er sich auch einen Moment versteckt, als er Frau Wiegands Schritte gehört hatte, und war erst abgehauen, als Frau Wiegand ins Haus gerannt war. Lutz hatte ja nicht ahnen können, daß Frau Wiegand gerade über den Hof marschierte, als er unter der Leiter stand. Im Normalfall hätte alles wie ein tragischer Arbeitsunfall ausgesehen, wenn da nicht die Ohrenzeugin gewesen wäre.
Ich rekapitulierte, was Frau Wiegand auf dem Hof mit angehört hatte. »Ich habe nichts Schlimmes getan« – das sollte der Bauer kurz vor seinem Sturz gesagt haben. Vielleicht hatte Lutz dem Bauern vorgeworfen, er habe Hannah lange genug das Leben zur Hölle gemacht. Oh ja, Lutz kam durchaus als Täter in Betracht.
Wie mußte es dann aber für sie gewesen sein, als Elmar entgegen allen Planungen in Verdacht geraten war? Falls alles so abgelaufen war, mußte Hannah daran fast zerbrochen sein. Vielleicht deshalb der Versuch, den Verdacht auf jemanden von außerhalb zu lenken, der etwas gegen Bauern allgemein hatte. Nach Steinschultes Angaben war Hannah zur Zeit der Schmiererei gerade spazieren gewesen. Sie konnte also die Sache selbst durchgezogen haben, vielleicht aber auch zusammen mit Lutz.
Die Bedienung brachte mir den zweiten Espresso, und ich schlürfte ihn mit einem Mal herunter. Hannahs Gesicht tauchte in meinem Gedächtnis auf. Es war beinahe unmöglich, sich diese zerbrechliche Person als kaltblütige Mörderin vorzustellen. Oder wirkte Hannah nur deshalb so schwach und angeschlagen,
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