Baustelle Demokratie
Wo früher 100 Arbeiter in einer Werkhalle standen, überwachen heute zwei den computergesteuerten und voll automatisierten Produktionsprozess. Diese Entwicklung ist zunächst nicht problematisch, da es ja seit Beginn der Zivilisationsgeschichte das Bestreben des Menschen ist, durch Intelligenz und Erfindergeist körperliche Arbeit überflüssig zu machen und damit Lebensqualität zu steigern. Wenn allerdings bei fortschreitender Rationalisierung und Produktivitätssteigerung die Rahmenbedingungen unverändert fortbestehen – Achtstundentag und Fünftagewoche als Normalfall –, dann führt das unweigerlich in die strukturelle Krise der Erwerbsarbeit, die wir heute erleben: Die Menschen, die Arbeit haben, leisten Millionen von Überstunden im Jahr, während viele andere draußen stehen und von Erwerbsarbeit und materieller Teilhabe ausgeschlossen sind. Das betrifft vor allem gering Qualifizierte und ungelernte Arbeitskräfte, für die in der rationalisierten Arbeitswelt von heute immer weniger Platz ist. Daher ist der Ruf nach mehr und besserer Bildung und Qualifizierung völlig berechtigt. Doch das zweite Element einer Politik der Vollbeschäftigung, die ja nach wie vor wichtig wäre, müsste dann auch eine Reduzierung der Wochen-, Tages- oder Lebensarbeitszeit zugunsten einer gerechten Verteilung von Arbeit sein.
Doch während früher bei Tarifverhandlungen neben dem Lohn häufig auch die Arbeitszeit Gegenstand der Auseinandersetzung war (Stichwort: »Kampf um die 35-Stunden-Woche«), scheint diese Debatte heute unmöglich geworden zu sein. Arbeitszeitverkürzung ist mittlerweile nicht nur weitgehend tabu, es wird im Gegenteil und absurderweise über eine Verlängerung der Arbeitszeiten diskutiert. Das Problem daran ist nicht nur der Ausschluss von Millionen von Menschen vom Arbeitsmarkt, sondern auch eine ausgeprägte Krise der sozialen Sicherungssysteme. Da Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung aus den Abgaben sozialversicherungspflichtiger Arbeit refinanziert werden, deren Volumen aber tendenziell weiter abnimmt, wird die Finanzierung der Sozialversicherung immer schwieriger. Die Systeme geraten unter Legitimationsdruck, die gesellschaftliche Debatte wird härter und hitziger. Guido Westerwelles Wort von der »spätrömischen Dekadenz«, der Empfänger von Sozialleistungen anheimgefallen seien, passt genau zu dieser Situation.
Den neoliberalen Kritikern des Sozialstaats kann diese Entwicklung nur recht sein. Sie haben leichtes Spiel mit der Behauptung, die Krise der Sozialversicherung habe ihre Ursache in zu komfortablen Sozialleistungen, welche die Menschen träge machen und den »Anreiz zur Arbeitsaufnahme« hemmen würden. Nur wird diese Behauptung nicht dadurch richtiger, dass sie ungezählte Male wiedergekäut wird. Der nüchterne Blick zeigt vielmehr einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Krise der Erwerbsarbeit und der Krise des Sozialstaats.
Nicht die Hilfebedürftigen sind dekadent und träge, das System ist dringend reformbedürftig! Arbeitszeitverkürzung, gesetzlicher Mindestlohn, Neubestimmung des Existenzminimums, Kindergrundsicherung, eine menschenwürdige Mindestrente im Alter, Bürgerversicherung und ein Ende der repressiven Arbeitsmarktpolitik gehören auf die politische Tagesordnung. Doch die staatliche Politik hat auf die Krise bekanntlich völlig anders reagiert: Statt den Stier bei den Hörnern zu packen, also Arbeit gerecht zu verteilen und angemessen zu entlohnen, hat man – still und unausgesprochen – eine Verantwortungsumkehr vorgenommen. Klassische Arbeitsmarktpolitik ging davon aus, das Phänomen der Arbeitslosigkeit habe seine Ursachen in strukturellen Veränderungen der Arbeitswelt. Demzufolge sah sich auch staatliche Politik in die Pflicht genommen und hielt Erwerbslosen zugute, dass die Arbeitslosigkeit nicht ihre Schuld, sondern strukturell durch die Entwicklungen in der Arbeitswelt verursacht sei. Im Zeitalter des »Förderns und Forderns« geht man hingegen davon aus, für die Arbeitslosigkeit sei in erster Linie der Arbeitslose selbst verantwortlich, was die Legitimation dafür liefert, Menschen, die unverschuldet in soziale Not geraten sind, massiv unter Druck zu setzen und unter Androhung materieller Einbußen dazu zu bringen, schlechte Arbeit zu schlechten Konditionen anzunehmen. Aktivierende Arbeitsmarktpolitik ist das passende Gegenstück zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und zur Etablierung von Niedriglöhnen und prekärer
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